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Geh ran, dachte er. Wo immer du bist!

Es klingelte durch. Wie gehabt. Keine Mailbox, nichts.

Kika, um Himmels willen, wo bist du?

Er musste sich irgendwie bemerkbar machen. Mit zitternden Fingern begann er, dem Handy eine Nachricht einzugeben. Ein Rest seiner Ratio soufflierte ihm, was er zu schreiben hatte. Sagen, wo er war, was er wusste – und um Hilfe rufen.

Geräusche. Schritte. Jemand blieb vor der Badezimmertür stehen.

In fiebernder Hast jagten Kuhns Finger über die Tastatur. Mit jedem Tastendruck gab das Handy ein dünnes Fiepen von sich. Der Speicher begrenzte die Nachricht auf einhundertsechzig Zeichen, aber die würde er ausnutzen, ganz gleich, wie oft er sich verschrieb.

Die Tür wurde geöffnet.

Licht fiel ein und färbte den Vorhang vor Kuhns Augen wolkig blau. Er stoppte die Eingabe. Schreiben konnte er jetzt vergessen. Nur warten und hoffen, dass der andere gehen würde, ohne die Dusche zu inspizieren.

Abschicken, durchfuhr es ihn. Du musst die verdammte Nachricht abschicken.

Es wird fiepen, wenn du das tust.

Leise Schritte näherten sich und stoppten unmittelbar vor der Dusche. Dann meinte Kuhn zu hören, wie der Unbekannte das Bad wieder verließ. Atemlos und mit aufgerissenen Augen wartete er. Aus der Diele erklangen nun lautere Geräusche. Offenbar war der andere zu dem Schluss gekommen, dass er allein in der Wohnung war, und machte sich keine Mühe mehr, sein Hiersein zu verbergen.

Einen Moment später schlug die Wohnungstür zu.

Ein tiefer Seufzer entströmte Kuhns Mund. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er in Schweiß aufgelöst war. Seine Angst stieg in die Nase.

Er hoffte, dass er sich nicht nass gemacht hatte vor lauter Heldenhaftigkeit. Die Peinlichkeit würde ihm für alle Zeiten nachschleichen. Nie wieder würde er in aller Unschuld eine Dusche oder Herrentoilette aufsuchen können.

Schnell, ohne die Nachricht noch einmal zu lesen, schickte er sie ab.

Dann steckte er das Handy zurück in die Jacke und schob sich die Kacheln hoch.

Der Vorhang wurde beiseite gerissen.

Kuhn schrie auf und plumpste zurück. Über ihn gebeugt stand der Mann mit der Lederjacke. Er sah mit unbewegtem Gesicht auf Kuhn herab, als habe er nichts anderes erwartet als das Häufchen Elend, das sich seinen Augen darbot, nur dass in seinem Blick kaltes Interesse funkelte.

Kuhn keuchte. Er versuchte, etwas zu sagen, sich für sein Eindringen zu entschuldigen, zu rechtfertigen, aber seiner Kehle entrang sich nur ein hohles Stöhnen.

Halb besinnungslos vor Angst drückte er sich weiter in die Ecke.

Der Mann regte sich nicht. Er stand nur da und fixierte Kuhn auf eine Weise, dass der Lektor sich unter dem eisigen Blick kleiner und kleiner werden fühlte. Noch wenige Sekunden, und er würde hinweggeschrumpft und im Ausguss verschwunden sein.

Dann holte der Slawe aus.

Kuhn sah den Arm des Mannes in die Höhe fahren und auf sich herabsausen. Erneut schrie er auf, riss schützend die Arme über den Kopf und hörte sein Schreien in spitzes Kreischen umkippen. Todesangst erfasste ihn. Seine Blase entleerte sich im Moment, da die Faust des anderen wie ein Vorschlaghammer auf den Armaturenhebel krachte und ihn hochriss. Eiskaltes Wasser schoss aus der Dusche und durchnässte den Lektor im Bruchteil einer Sekunde. Brausen und Schreien verbanden sich zu einer infernalischen Klage. Er schrie immer noch, als der Slawe die Dusche wieder abgestellt hatte und ihn am Kragen hochzerrte.

Würde er je aufhören können zu schreien?

»Still«, sagte der Mann.

Kuhns Geheul erstarb in weinerlichem Gehüstel. Er würgte und zitterte am ganzen Körper.

Langsam hob er den Kopf und blickte in die Mündung einer Pistole.

PARK

»Wer ist Sweeny?«, murmelte Wagner.

Wieder, wie in der vorangegangenen Nacht, lag sie halb auf ihm, die Beine angewinkelt, den Kopf zwischen Brust und Bizeps gebettet. Dennoch war alles anders. Sie lauschte dem Schlag seines Herzens und fühlte sich auf wunderbare Weise kraftlos und entspannt. Zugleich war sie hellwach und voller Leben wie seit langem nicht mehr. Sie wusste nicht zu sagen, wie oft und wie lange sie sich geliebt hatten. Es spielte keine Rolle. Bemerkenswert war etwas anderes – dass es ihr vorkam, als hätten sie etwas vollzogen, das seit Jahren fällig gewesen war. Etwas, das süchtig machen konnte. So sehr, dass sie die Sucht schon verspürte, bevor die Wirkung nachgelassen hatte.

Kann es sein, dachte sie, dass Menschen wie Puzzlesteine sind, vorbestimmt, in eine ganz bestimmte freie Stelle zu passen? Du weißt nicht, wo diese Stelle liegt, wer diese Stelle ist. Sie kann ein Mensch sein, ein Land. Im Moment, da du sie findest, da sie dich findet, fügst du dich ein. Jemand hat sie für dich freigehalten. Kann es ein größeres Glück geben? Wie viele Menschen sterben, ohne das je erlebt zu haben?

Wie viele Menschen sterben, ohne je gespielt zu haben?

Warum hatte sie erst nach Köln zurückkehren müssen, um ihren Platz im Puzzle zu erkennen? Wenn eine höhere Vorsehung sich die Zeit damit vertrieb, Zeichen zu geben, dann hatte sie es heute Nacht jedenfalls getan. Es war nicht O’Connor. Es war nicht sie. Es war ihr Zusammenkommen, das Gewaltige, Unfassbare, das über alles hinausging, was die Summe zweier Menschen und eine schwüle Nacht in den meisten Fällen ergaben. Es waren ein Ort, eine Zeit, ein Spielbrett und zwei Spieler, ein allem zugrunde liegender Wahnsinn, geeignet, die menschliche Seele von übermäßiger Vernunft zu heilen.

An ihrem Handgelenk tickte geschäftig und leise die Armbanduhr, die sie von ihrem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte. Sie war ihr lieb und teuer, schon weil sie tatsächlich sehr teuer gewesen war, und doch nicht wert, einen Blick darauf zu werfen. Das Letzte, was sie in diesem Augenblick interessierte, war die Zeit und ihr Verstreichen. Die Physiker mochten hundertmal betonen, dass der Mensch und die Welt und das ganze Universum gekettet waren an die zerstörerischen Kräfte des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und demzufolge alle Energie und alle Materie irgendwann enden würde, alle Liebe, alle Leidenschaft, aller Hass, alles Elend, alles Glück, alles Fühlen, alles Sein. In dieser Nacht waren die Naturgesetze außer Kraft gesetzt.

Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr zu Besuch in dieser Stadt. Über ihr rauschte leise der Wind in den Blättern. Das ferne Schlagen der Trommel war verstummt. Sie roch Erde, Gras und den Mann unter sich.

Sie war zu Hause.

»Sweeny?«, fragte O’Connor.

»Du hast seinen Namen genannt. Verrückter Sweeny. Du hast alle möglichen Götter angerufen.«

O’Connor lachte.

»Manchmal willst du in Champagner baden, und wenn du keinen hast, nimmst du eben Wörter. Sweeny ist kein Gott. Er war ein König. Der König von Dal Araidhe im alten Irland. Er hat einen fastendürren Pfaffen erschlagen und die Glocke eines heiligen Mannes zerbrochen. Zur Strafe wurde er in einen Vogel verwandelt und verlor seinen Verstand. Er konnte nur noch in Reimen sprechen. Der Fluch bannte ihn in die Lüfte, so dass seine Füße niemals den Boden berühren durften und er auf ewig dem Sturm ausgesetzt war.«

»Geschieht ihm recht. Zerzauster Totschläger. Und so jemand soll dir Kraft verleihen?«

»Sweeny? Natürlich! Versprich ihm, dass du ihn wieder Mensch werden lässt, und er tut alles für dich. Verfluchte sind korrumpierbar.«

Sie seufzte und rollte sich neben ihn auf den Rücken. Der Boden war angenehm kühl und gab ihr das Gefühl, darin wurzeln zu können. Hoch über ihr erstreckte sich die dunkle Kuppel aus Zweigen und Blättern.

»Hast du auch mitunter das Gefühl, dass an gewissen Plätzen keine… Zeit existiert?«, fragte sie.