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O’Connor drehte ihr das Gesicht zu.

»Ich habe das Gefühl seit meiner Kindheit.«

»Ich ganz selten«, sagte sie. »Dieser Baum, das ist mein Platz. Weißt du, es ist komisch. Mir ist klar, dass wir gleich von hier weggehen werden. Vielleicht kommen wir nie wieder. Ich will mich nicht an einen Moment klammern, aber ich wünschte trotzdem, wir könnten es mitnehmen – dieses Gefühl, die Zeit besiegt zu haben. Wenn es einmal in uns ist, dann…«

O’Connor schwieg.

»Welches sind deine Plätze?«, fragte sie.

Er sah nach oben.

»Ich glaube, mein ganzes Leben ist dieser Platz.«

»Bist du damit glücklich?«

»Ich weiß nicht. Es hat seine Vorteile. Wenn du jung bist, denkst du, irgendwann kommt der Punkt, an dem du erwachsen wirst. Spätestens ab dreißig wird dir klar, dass du nie erwachsen wirst. Du wirst nur älter. Der Gedanke macht dir noch weniger Spaß, also leugnest du einfach die Zeit und die ganze Welt in ihrer lächerlichen Ernsthaftigkeit. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bin so… unbeeindruckt von allem, was um mich herum vorgeht.«

»Manchmal ist es wichtig, Dinge ernst zu nehmen. Findest du nicht?«

Er streckte eine Hand aus und streichelte ihre Wange.

»Für wen, Kika? Es ist doch nur mein kleines, unbedeutendes Leben, um das es geht. Wer hat denn etwas davon, wenn ich die Dinge ernst nehme?«

»Es könnte jemanden geben.«

»Mag sein. Aber niemand ist auf der Welt, um den Vorstellungen anderer zu entsprechen.«

»Pardon«, sagte sie leise. »Natürlich, es ist dein Leben. Das hatte ich vorübergehend vergessen.«

»He, Kika!« Er zog sie am Ohr. »Wir sind geflogen heute Nacht.

Wir werden wieder fliegen. Würdest du mich noch wollen, wenn meine Füße den Boden berührten?«

»Ich würde wollen, dass du freiwillig oben bleiben könntest.«

O’Connor schwieg. Wagner richtete sich auf und stützte sich auf den Ellbogen.

»Ich wollte dich nicht tadeln«, sagte sie leise.

»Das tust du nicht.«

»Gibt es nicht doch irgendetwas, das dich ein bisschen beeindruckt?« Im selben Moment ärgerte sie sich über die Durchschaubarkeit der Frage. »Ich meine, es hat einen Krieg gegeben«, fügte sie hinzu, um auf anderes Terrain zu entkommen. »Wir liegen hier und sind glücklich, aber anderswo .«

Er runzelte die Stirn. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.

»Wo ist anderswo, Kika? Anderswo ist nicht hier. Anderswo ist hypothetisch. Anderswo ist immer nur da, wo ich will.«

»Anderswo ist überall«, sagte sie trotzig.

O’Connor rollte sich auf die Seite.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.

»Ja.«

»Schön. Dann lass dir mal was über diesen Gipfel erzählen, auf den hier alle so stolz sind. Das ist Anderswo! Wenn ich ein zerlumpter kosovarischer Vertriebener wäre, der in der Hölle des Flüchtlingslagers von Blace darüber nachsinnt, wo seine Schwester und seine Eltern gerade sind und ob sie überhaupt noch leben, könnte es kein bizarreres Anderswo geben als diese pompösen Feierlichkeiten in eurem schönen Köln, nur weil ein gemeingefährlicher Irrer gerade zugesichert hat, für die Dauer der nächsten Jahre seine Bluthunde in Ketten zu legen. Ich bin beeindruckt. Was war denn mit dem Anderswo in Ruanda? Was ist mit Kurdistan? In unseren Städten verbrennen sich Männer und Frauen auf offener Straße, weil ihre Verwandten irgendwo hingemetzelt werden oder jeden Tag befürchten müssen, auf Minen zu laufen und ihrer Gliedmaßen verlustig zu gehen. Dennoch, Anderswo. Der kleine Unterschied liegt darin, dass Jelzin nicht mit Weltkrieg droht und chinesische Studenten keine amerikanischen Flaggen verbrennen. Nie teilen wir die Angst der anderen. Wir verwechseln nur deren Angst mit unserer.«

»Hattest du nicht gesagt, das alles lässt dich kalt?«

»Tut es auch. Ich bin nicht gut darin, mich in Verzweiflung zu winden angesichts einer Vielzahl von Kriegen, Unruhen und Verbrechen, Waldbränden und Sturmfluten. Bilder im Fernsehen. Ich kenne diese Leute nicht. Die Mechanik hinter allem kotzt mich an, darum geht’s. Du wirst mir vielleicht Zynismus und Gefühlskalte vorwerfen können, aber niemals wirst du mich bei einer Lüge ertappen. Ich hasse Verlogenheit, und darum hasse ich das Anderswo vor unserer Haustür. Was um die Ecke in deiner eigenen Stadt passiert, das ist das wahre Anderswo, aber wir lassen unsere Rundumbetroffenheit lieber an irgendeinem möglichst weit entfernten Winkel der Welt aus.«

»Und das ist ein Grund, sich nicht zu engagieren? Kosovo, Kuwait, Ruanda. Kein Interesse?«

»Erzähl mir nichts, Kika. Wir alle wollten nichts sehnlicher, als dass Milosevic die Vertreibungen und Säuberungen einstellt, damit uns nichts passiert. Darum sind uns die Kosovaren plötzlich so nahe, weil wir Angst vor einer Eskalation dessen haben, was die Nato da vom Zaun gebrochen hat. Kein Volk hat diesen Krieg gewollt. England hat die Schnauze voll von dem Gerangel mit der IRA, die Briten wollen ihre Ruhe, und plötzlich philosophiert Jelzin über den Dritten Weltkrieg. Jetzt müssen sie sich engagieren, bloß weil Leute wie Tony Blair sich keinen Kopf darüber zu zerbrechen brauchen, wie und wo sie schlimmstenfalls überleben. In Diskrepanz zum Willen der Bevölkerung singt er das Hohelied der Betroffenheit wie euer Kanzler Schröder und euer Verteidigungsminister Scharping, wie euer nachgedunkelter grüner Außenminister, wie Bill Clinton, dessen Kenntnisse über das Land, auf das seine Flugzeuge Bomben werfen und Schuldige wie Unschuldige töten, kaum größer sein dürften als meine über Feuerland oder den Senegal. Geradezu rührend hat er über die glänzenden Aussichten für eine Bombardierung Jugoslawiens gesprochen, weil da im Mai besseres Wetter herrsche als im April. Und dass es im Juni noch mal besser wird als im Mai, wusste er auch, Donnerwetter! Erdkunde eins, setzen! Das Anderswo des Präsidenten. Findest du es so verwerflich, dass ich meinem Desinteresse an der Vielzahl weltweiter Katastrophen, Desaster und Kriege offen Ausdruck gebe? Nein, es betrifft mich nicht. Ich war nicht dabei. Ich sehe Bilder im Fernsehen. Danke der Nachfrage, mir geht es gut.«

Wagner starrte ihn an und war verblüfft. O’Connor hatte sich in Rage geredet. Er fühlte sich angegriffen, aber anders als sonst reagierte er darauf nicht mit Hochnäsigkeit und Spott.

Sie hatte ihn aus der Reserve gelockt.

Die Erkenntnis stimmte sie froh. Plötzlich musste sie grinsen. Sie rollte sich zu ihm hinüber und stemmte sich gegen seinen Arm, bis er einknickte und sie ihren Körper über seinen schieben konnte.

»So«, sagte sie.

»Was heißt so?«

»Es heißt, ich habe dich ertappt.«

»Sag bloß. Bei was denn?«

»Anteilnahme.«

O’Connor hob eine Braue. In diesem Moment sah er aus wie David Niven im Angesicht höchster Gefahr: geringfügig irritiert und in offensichtlicher Sorge um den Sitz seiner Garderobe.

»Wie es aussieht, hast du das.«

»Und daraus folgt?«

Er zögerte.

»Ich weiß nicht, was daraus folgt. Ich weiß nur, dass ich heute

Nachmittag nicht arbeiten musste.«

»Was?«

»Ich musste nicht arbeiten. Es wird das erste und das letzte Mal sein, ich schwöre tausend heilige Eide, aber ich habe dich belogen. Ich hatte nichts zu tun heute Nachmittag. Nicht das mindeste bisschen.«

Allmählich begriff sie.

»Und… warum hast du dennoch?«

»Ich hatte Angst.«

»Angst?«

»Ich hatte Angst, dich an den falschen Moment zu verlieren. Dieselbe Angst wie du, schätze ich.«

Sie wandte den Blick ab, sah ihm wieder in die Augen, schaute erneut zur Seite. Oh Gott, dachte sie. Oh mein Gott, das darf nicht passieren! Was sollen wir denn machen? Ich kann mich nicht in dich verlieben, Liam O’Connor, du verrückter Säufer, du Ausgeburt einer nihilistischen Phantasie, ich bin so glücklich und möchte es bleiben, bitte hilf mir, lass mich nicht allein, halt mich, lass mich gehen!