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Wo war sie? Wo war O’Connor? Was, um Himmels willen, war mit den beiden passiert?

Wenige hundert Meter weiter zog ihn der Slawe am Ärmel und wies auf einen Jeep, der unter den Bäumen der Vorgebirgsstraße parkte.

»Du fährst«, sagte er.

Die ganze Strecke über hatte der Slawe schweigend neben ihm gesessen. Es gelang Kuhn, nicht gegen Bäume oder über rote Ampeln zu fahren und den Wagen in der Spur zu halten, trotz flatternder Nerven. Seine Gedanken räsonierten zwischen wilder Hoffnung und ultimativer Rückschau. Er sah Szenen seines Lebens an sich vorbeiziehen, Entscheidungswege gabelten sich, suggerierten ihm, er hätte den Verlauf des heutigen Abends vermeiden können, endeten im Leeren. Sie hatten den Rhein überquert und waren schließlich in ein kleines Industriegebiet gelangt, vorbei an Baracken, Bürogebäuden, Ladeflächen und Parkplätzen. Der Innenhof, in den sie schließlich einbogen, schien einer Spedition zu gehören. Kuhn konnte im Dunkeln die massigen Silhouetten mehrerer Lastwagen erkennen. Der Slawe bedeutete ihm zu halten und auszusteigen. Sie gingen hinüber zu einer Halle und traten ein.

Neonröhren spendeten kaltes Licht. In der Mitte ruhte ein riesiger Kasten auf einer Art Achswagen. Im ersten Moment glaubte Kuhn, einen Lkw-Anhänger vor sich zu haben, so groß war das Gebilde, nur dass die Räder quer gestellt waren und auf Schienen ruhten. Aus einer der Seiten liefen Kabel und verschwanden in zwei klotzigen Gebilden. Nichts davon kam Kuhn bekannt vor. Wie alle Intellektuellen bewohnte er den Olymp des Wissens, von dessen Warte die Sicht auf die praktischen Dinge des Lebens eher vernebelt war. Er sah weitere Dinge, ein silbriges Dreibein und eine Schaltkonsole auf einem Sockel. Seine Neugier überwand die Mauer aus Furcht, aber er traute sich nicht, Fragen zu stellen. Und eigentlich wollte er es auch nicht wissen. Er wollte gar nichts wissen. Jedes Buch, jeder Fernsehkrimi lehrte einen, was es nach sich ziehen konnte, wenn man zu viel wusste.

»Geh da rüber.«

Der Slawe bugsierte ihn zu einer der Wände. Dünne Stahlrohre liefen aus der Decke und daran entlang bis zum Boden. Er förderte ein paar Handschellen zutage und kettete Kuhn damit an eines der Rohre. Dann wandte er sich ab und verschwand in einer Tür im hinteren Hallenbereich. Kuhn sah ihm nach, dann war er allein mit sich und seiner Not. Er blickte sich um. Außer dem rätselhaften Wagen enthielt die Halle so gut wie nichts. Ein langer Holztisch und einige Stühle waren ein paar Meter weiter an die Wand geschoben, das war das gesamte Mobiliar. Alles andere als ein Ort, um sich heimisch zu fühlen.

Schwach drangen Stimmen an sein Ohr.

Plötzlich, in der Endgültigkeit seines Gefangenendaseins, fühlte Kuhn sich elender denn je. Er wagte sich nicht auszumalen, was sie mit ihm tun würden. Oder was sie mit Wagner getan hatten. Und mit Liam O’Connor.

Ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit überkam ihn.

Er begann zu schluchzen.

Die Tür öffnete sich wieder. Eine Frau kam zu ihm herüber.

»Wie dumm«, sagte sie.

Ihre Stimme klang weich und dunkel. Ihr Deutsch wies einen kaum merklichen Akzent auf. Im ersten Moment vermutete Kuhn, sie sei Italienerin, dann war er sich dessen nicht so sicher.

»Werden… Sie mich töten?«, fragte er.

Wie larmoyant er klang in der Leere der Halle. Plötzlich empfand er Scham. Es war lächerlich. Vielleicht würde sie ihn töten, und er

schämte sich seiner Angst, weil sie eine Frau war.

Sie sah ihn aus dunklen Augen an. Auf unbestimmte Art war sie hübsch, wenngleich ihre Züge etwas Maskenhaftes hatten. Einzig ihr Blick war von irritierender Intensität.

»Es kommt darauf an«, sagte sie.

»Worauf?«

»Sie müssen keine Angst haben. Wir töten nicht wahllos Menschen. Wir suchen sie sehr genau aus.« Sie machte eine Pause und ließ die Worte wirken. Dann sagte sie: »Wenn Sie es schaffen, bis morgen Abend plausibel von der Bildfläche verschwunden zu bleiben, so dass keiner Ihrer Freunde einen Verdacht schöpft oder zur Polizei geht, sind Sie übermorgen frei. Das ist der Handel.«

In Kuhn regte sich Hoffnung. Was die Frau sagte, klang zumindest, als seien Kika und O’Connor nicht in unmittelbarer Gefahr.

»Ich werde dafür sorgen«, versprach er atemlos.

Sie senkte leicht den Kopf. Dann kam sie näher heran, ergriff sein Kinn und drückte seine Wangen zusammen. »Ich akzeptiere keine Fehler, keine Pannen und keine Probleme. Das sollten Sie wissen. Wenn Sie Ihre Sache gut machen, werden Sie leben.«

Sie ließ ihn los. Kuhn schluckte und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.

»Ich werde alles tun«, murmelte er schwach.

»Sofern das reicht«, erwiderte sie.

Die Frau hielt einige Sekunden wortlos den Blick auf ihn geheftet. Dann drehte sie sich von ihm weg und verschwand wieder hinter dem Pritschenwagen.

Nach wenigen Minuten kehrte der Slawe zurück. Erneut fragte er Kuhn nach sämtlichen Einzelheiten seines Aufenthalts in Köln aus, nach O’Connor, nach Wagner. Dann gab er ihm eine Reihe von Instruktionen. Schließlich ließ er ihn wieder allein.

Längere Zeit saß Kuhn teilnahmslos auf dem Boden und starrte vor sich hin. Niemand kam, um sich mit ihm zu beschäftigen. Er wartete, ohne zu wissen, auf was, und das war überhaupt das Schlimmste von allem.

Sein Handy klingelte.

Der Slawe kam herbeigelaufen und legte viel sagend die Hand auf die Herzgegend. Was immer es heißen sollte, ob er dort die Waffe trug, die Kuhn notfalls auf der Stelle exekutieren würde, oder ob er andeuten wollte, wo die Kugel eindringen würde, der Lektor machte keinen Fehler. Er sagte, was sie ihm aufgetragen hatten, und er machte es gut genug, dass ein Lächeln die kantigen Züge des anderen überzog.

Kuhn schaffte es, zurückzulächeln.

»Ich will leben«, sagte er.

Der Mann nickte.

»Das wollen wir alle.«

Die SMS. Der Hauch einer Chance.

Und noch etwas. Möglicherweise.

Der Slawe hatte nicht mitbekommen, dass Kuhn zwei versteckte Hinweise in das Gespräch mit eingeflochten hatte. Sie waren so dezent ausgefallen, dass er sich sorgte, ob Wagner sie überhaupt mitbekommen hatte. Aber deutlicher zu werden, hatte er sich nicht getraut, und ganz sicher wäre es eine schlechte Idee gewesen, weil vermutlich seine letzte.

Jedenfalls, dachte er, bin ich nun in der beneidenswerten Situation, zu wissen, dass es eine Verschwörung gibt. Ich weiß es definitiv. Ich weiß sogar, dass es am Flughafen passieren wird.

Im selben Moment wusste er, auf wen sie es abgesehen hatten.

Nein, sie werden mich nicht töten, dachte er bitter. Nicht so bald. Möglicherweise nicht vor morgen Abend.

Bis dahin musste ein Wunder geschehen.

Egal, wer es vollbrachte.

COMPUTERRAUM

Mirko ging zurück in den Raum, den sie zur Zentrale umgebaut hatten, und wartete. Seine Lider sanken halb herab, sein Denken schaltete auf eine Art Notstromaggregat. Er schlief selten, zu manchen Zeiten mehrere Nächte nicht. Die Trance war seine Art, Körper und Geist zu regenerieren. Zehn Minuten Trance waren effizienter als drei Stunden Schlaf.

Nach einer Weile trat Jana neben ihn, eine Tasse frisch gebrühten Kaffee in der Hand.

Mirko betrachtete sie von der Seite. Befriedigt registrierte er, dass Jana trotz der unvorhergesehenen Ereignisse ausgeglichen und entspannt wirkte. Im Grunde hatten sie alle nicht viel zu tun in dieser letzten Phase. Ohne O’Connors Wiedersehen mit Paddy und Kuhns unplanmäßigen Auftritt in der Dusche wäre es regelrecht langweilig geworden. Wenn sie nicht in der Spedition waren, gab es keine Jana. Dann bewohnten Laura Firidolfi, alleinige Gesellschafterin der Neuronet AG aus Alba, und ihr Chefprogrammierer Maxim Gruschkow das elegante Hoppers im Belgischen Viertel von Köln und führten Gespräche mit ortsansässigen Software-Entwicklern. Nach Wochen und Monaten der Camouflage würde es keinerlei Hinweis darauf geben, dass einer der beiden je zuvor in Köln gewesen war. Erstmals weilte die administrative und technische Führung des piemontesischen Unternehmens für die Dauer einer Woche am Rhein, ausgestattet mit zwei Leihwagen vom Typ Audi 8, und wurde nicht müde zu betonen, wie gern man das Geschäftliche mit ein wenig Gipfeltourismus verband.