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Mirko stoppte, rieb sich die Augen und starrte hinaus.

In dem Talkessel stand eine schwarze Wand. Sie musste an die drei Kilometer hoch sein. Blitze zuckten darin. Mirko wusste, was ihn erwartete. Selbst in dem Allradfahrzeug würde er in den nächsten zwei Stunden unablässig das Gefühl haben, von den herunterrauschenden Wassermassen weggeschwemmt zu werden. Das Tor zur Hölle konnte nicht eindrucksvoller sein, und dieses Unwetter war für hiesige Verhältnisse nicht einmal sonderlich spektakulär.

Ergeben ließ er den Wagen talabwärts rollen. Die letzten Kilometer sichtbarer Straße lagen gefältelt vor ihm, dahinter begann Dantes Inferno und das Aus für jeden Scheibenwischer.

Er fragte sich, warum ein Mann in der Position seines Auftraggebers es vorzog, ihn an einem solchen Ort zu treffen. Es gab komfortablere Gegenden um diese Jahreszeit, um konspirative Zusammenkünfte abzuhalten. Vielleicht braucht er das Gefühl, in einem Film mitzuspielen, dachte Mirko. In allem, was er sagt und tut, ist er weniger dem wirklichen Leben verbunden als einer Inszenierung. Das Stück spielt irgendwo in der Vergangenheit, und wer seine Rolle darin nicht lernen will, muss abtreten. Nationalismus ist immer auf diese merkwürdig verklärende Weise retrospektiv. Alle großen Nationalisten nehmen ihr Land vordergründig als Schatten einer leuchtenderen Epoche wahr und sich selbst als diejenigen, die das Rad zurückdrehen und das Licht neu entzünden werden. Wie die Zukunft auszusehen hat, sagt ihnen nicht der Verstand, sondern ein mythologisches Gespür.

Auch sein Auftraggeber träumte von etwas, das es nie gegeben hatte. Aber er schlief auf einem Bett, das mit genügend Geld gestopft war, um Zerrbilder seines Traumes Realität werden zu lassen und ihnen perverses Leben einzuhauchen. Wie immer würde das Ergebnis eine zynische Fratze sein, ein Frankenstein-Monster, getrieben von unerträglicher Selbstbehauptung und zusammengehalten von ein paar schnöden Parolen. Die Träume eines onanierenden kleinen Jungen, aufgebläht zur Orgie.

Sie alle waren gescheitert, die großen Führer. Einige zugegebenermaßen fulminant. Immer hatten sie es verstanden, Millionen für ihren Auftritt bezahlen zu lassen, bevor sie die Bühne durch den Hinterausgang wieder verließen. Und immer hatten sie selbst bezahlt. Millionen und Milliarden. An Menschen wie Mirko, die überdauerten, weil es ihnen gleich war, welchem Herrn sie gerade dienten.

Wäre Mirko getrieben gewesen von jeglicher Moral, hätte ihn die Erkenntnis dessen, was der alte Mann vorhatte und was er de facto damit erreichen würde, die schwarze Wand gar nicht erst durchqueren lassen. Die Mission konnte gelingen. Das Resultat hingegen würde seinen Platz finden in der Chronologie menschlichen Versagens.

Aber Mirko war weit davon entfernt, den Alten darauf hinzuweisen. Es war nicht sein Job. Er hatte sein Leben darauf ausgerichtet, das Geld zu nehmen, das man ihm bot. Was er dafür tat, änderte die Dinge ohnehin nur kurzfristig. Nichts, wofür es sich lohnen würde, ins Lager der Weltverbesserer zu wechseln. Die Menschheit war es gewohnt, Katastrophen zu durchleiden, um sich irgendwann auf die eine oder andere Weise wieder einzupendeln. Der Alte irrte, wenn er ihn für einen Patrioten hielt. Mirkos Treue zum Land erwuchs einzig den Möglichkeiten, die es ihm bot. Zwar fand Mirko, eigentlich müsse auch er ein Gewissen haben, einfach der Komplettierung halber, und manchmal ertappte er sich dabei, Mitleid mit Tieren zu empfinden. Darüber hinaus galt seine aufrichtige Sorge allenfalls dem Tag, an dem er Privilegien einbüßen und nicht mehr würde tun können, was ihm Spaß machte.

Er drehte die Musik lauter.

Um ihn herum wurde es Nacht, dann peitschte der Wind schwere

Regentropfen gegen die Scheibe. Im nächsten Moment brach eine Sintflut über ihn herein. Er schaltete zurück und fuhr langsamer. Ab jetzt brauchte er seine volle Konzentration. Was immer den Mann, den er heute zum zweiten Mal treffen würde, antrieb, hatte für Mirko keine Relevanz. Der Reiz lag in der Aufgabe selbst, in ihrer Durchführung, dem Lohn und der adrenalinfördernden Gewissheit, dass Versagen das Ende von allem sein würde, auch von Mirko.

Als er nach einer halben Ewigkeit aus dem Unwetter herausfand, geschah es schlagartig und ohne Übergang. Vor ihm erstreckte sich die sanft gewellte Ebene, darüber trieb diffuse Hochbewölkung. Im Rückspiegel konnte er die blauschwarze Wand sehen, der er entronnen war.

Mirko zündete eine Zigarette an, beschleunigte den Wagen und dachte an nichts.

Auf einer Anhöhe tauchte das Kloster auf. Seitlich bemerkte er einige schwarze Limousinen, schräg dahinter den schwarzen Insektenkörper eines Helikopters. Mirko parkte ein Stück abseits und stieg aus in Erwartung, die weißhaarige Gestalt wie vor zwölf Tagen an der Balustrade stehen und auf das Land hinausblicken zu sehen, aber es war niemand dort. Unter seiner Jacke spürte er die zwei Pistolen. Dass er dennoch keine Chance hätte, sollte ihm der Alte ans Leder wollen, war ihm klar und beunruhigte ihn nicht sonderlich. Leute wie er wurden in Blei oder Silber bezahlt, das war nichts Neues. Im Allgemeinen hatten sie die Wahl.

Mirko hatte sich für Silber entschieden.

Er ging die Stufen hinauf. Das Portal war offen. Langsam betrat er den dämmrigen Innenraum.

»Mirko. Wie schön, Sie zu sehen.«

Der alte Mann saß dort, wo früher ein Altar gewesen sein musste. Nun hatte man einen Tisch an der Stelle platziert sowie zwei Stühle, deren einer noch frei und ein Stück zurückgeschoben war. Der Alte

winkte ihn heran und prostete ihm mit einem Becher zu.

»Ein Scheißwetter, nicht wahr? Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gern«, sagte Mirko und ließ seinen Blick schweifen. Niemand außer ihnen beiden schien sich in dem dämmrigen Kirchenschiff aufzuhalten. Er wusste, dass das nicht stimmte. Sie waren überall.

Blei oder Silber.

Er nahm dem Alten gegenüber Platz, der ihn unter zusammengezogenen Brauen anblitzte und eine Thermoskanne aufschraubte. Köstlicher Duft stieg Mirko in die Nase.

»Milch? Zucker?«

»Danke. Nichts von allem.«

»Pur wie der gesunde Menschenverstand«, grinste sein Gegenüber und schob ihm seinen Becher zu. »Genauso halte ich es auch. Manche Dinge darf man nicht verdünnen oder versüßen. Das ist hier die letzten Jahre viel zu oft gemacht worden.«

Mirko trank. Nach der Höllenfahrt durchströmte ihn die heiße Flüssigkeit wie ein zusätzliches Jahr Lebenszeit.

»Was gefällt Ihnen so sehr an diesem Ort?«, fragte er. »Sie kommen den ganzen Weg hier raus, um sich in einer ungeheizten Kirche mit jemandem zu treffen, während draußen die Welt untergeht.«

Der Alte lachte trocken.

»Soll ich Sie lieber vor laufenden Kameras empfangen?«

Mirko schüttelte den Kopf.

»Das meine ich nicht. Anderswo wäre es auch geheim. Warum nehmen Sie die ganze Mühe auf sich?«

»Sie kommen doch auch hierher.«

»Ich folge Ihrem Ruf.«

Der alte Mann sah ihn mit der Andeutung eines Zwinkerns an. Trotz des Dämmerlichts fiel Mirko mehr noch als bei ihrem letzten Treffen auf, von welch intensivem Blau diese Augen waren. Unwirklich wie ein Postkartenhimmel.

»Stimmt, Mirko. Sie folgen meinem Ruf. Ich rufe, und Sie fahren zum Arsch der Welt. Und wissen Sie, was? Ich selbst komme aus keinem anderen Grunde hierher. Ich folge einem Ruf. Es wäre mir ein Leichtes, Sie in irgendeinem hübschen Salon zu empfangen, wo wir uns den Kaviar hinten und vorne reinschieben und ein paar Liter Champagner obendrauf kippen. Streng geheim, versteht sich! Ihnen würd’s auch besser gefallen, schon klar. Aber Sie haben vielleicht gehört, dass ich zu Absonderlichkeiten und Extremen neige. Warum, glauben Sie, liegen mir dieses Land und seine Geschichte so sehr am Herzen?«