Выбрать главу

Er legte auf und ging zurück zu seinem Büro. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es wenige Minuten vor zehn war.

Was, wenn Bär Recht hat?

Der Tag hatte so wunderbar begonnen. Am Horizont seiner Hoffnungen hatte sich in strahlendem Glanz die Aussicht gezeigt, Bill Clinton die Hand zu schütteln. Nicht, dass Lavallier wirklich scharf darauf war. Aber Clinton die Hand zu schütteln, hieß, einen gut gelaunten Präsidenten vor sich zu haben, dem nichts fehlte. Das Leben zum Beispiel.

Jetzt war es anders.

Gut. Dann war es eben so.

Achselzuckend ging er hinein zu seinem ungeliebten Besuch.

WAGNER

»Lavallier! Was tut ein Techniker?«

O’Connor hatte die Frage abgeschossen, kaum dass Lavallier wieder den Raum betrat. Der Hauptkommissar ging zu seinem Schreibtisch.

»Das fragen Sie doch nicht ernsthaft«, sagte er.

»Wieso?«

»Ich hörte, Sie sind für den Nobelpreis nominiert worden.«

»Ich bin fürs Nachdenken nominiert worden, und nichts anderes tue ich in diesem Augenblick.«

Wagner unterdrückte ein Gähnen und hoffte, dass Liam endlich nüchtern wurde. Es war kaum zu überhören, dass er versuchte, den Polizisten an die Wand zu spielen. Mittlerweile war ihr klar, dass es nichts mit Lavallier zu tun hatte. Es war seine Natur, Ärger zu provozieren. Er konnte und wollte es nicht anders haben.

Warum bloß, fragte sie sich. Warum kann er nicht gut aussehend, charmant, intelligent und liebenswürdig sein?

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Dr. O’Connor?«, fragte Lavallier freundlich.

»Paddy ist Techniker des Flughafens, Monsieur… Ich bitte um Entschuldigung, Hauptkommissar. Monsieur le Commissaire! Oder er war es bis heute. Ich dachte gerade, man müsste doch herausbekommen, an welchen Einsätzen er beteiligt war.«

Lavallier sah auf seinen Schreibtisch und ordnete einen Packen loser Blätter.

»Es freut mich, dass Sie meine Arbeit machen«, sagte er. »Möchten Sie sich auch um die anderen Dinge kümmern, die ich heute noch zu tun habe? Um elf Uhr landet eine russische Materialmaschine, gegen halb fünf kommt eine Delegation der Kanadier hier an. Zwischendurch bereiten wir die Landung der amerikanischen Pressemaschine und der Air Force One vor. Ach ja, ein paar Japaner gibt es auch noch in Empfang zu nehmen. Sushi für die Nerven. Die Söhne Nippons sind lieb, aber furchtbar anstrengend. Was meinen Sie? Lust, meinen Job zu übernehmen?«

O’Connor brummte etwas in sich hinein. Lavallier sah auf.

»Hören Sie mal, O’Connor, wenn Sie wirklich helfen wollen, denken Sie über diese SMS nach.«

»Das tue ich die ganze Zeit.«

»Und? Immer noch überzeugt, sie sagt Ihnen was?«

O’Connor breitete die Hände aus.

»Es ist etwas so Naheliegendes, dass ich es offenbar übersehe. Kennen Sie die Geschichte von Poe, in der jemand einen Brief sucht? Das Ding steckt die ganze Zeit über in einem Postkartenhalter direkt vor seiner Nase, aber er zieht es vor, unterm Sofa nachzusehen und die Schrankwand abzuräumen.«

»Verstehe.« Der Anflug eines Grinsens huschte um Lavalliers Mundwinkel. Dann wurde er wieder ernst. Sein Blick wanderte zu

Wagner.

»Als Sie mit Kuhn telefonierten letzte Nacht, war er also komisch.«

Sie nickte.

»Was genau war komisch? Seine Art?«

»Es war nicht Kuhn, wie ich ihn kenne. Er wirkte bedrückt.«

»Bedrückt«, sagte Lavallier langsam. »War er nur komisch, oder hat er auch was Komisches gesagt?«

In Wagners Kopf wuchteten sich zwei lethargische Beamte aus ihren Stühlen und schlurften zu einem großen Tor. Unter Mühen stemmten sie es auf. Davor wartete Lavalliers Frage, um ins Großhirn zu gelangen.

Sie überlegte. Hatte Kuhn etwas Komisches gesagt?

Eine Ahnung dämmerte in ihr hoch.

Worüber hatte sie sich noch gewundert letzte Nacht? Über den Umstand seiner plötzlichen Verlagsreise? Auch. Aber da war noch mehr.

»Ich erinnere mich nicht genau«, sagte sie.

Lavallier nickte.

»Ich mache Ihnen beiden einen Vorschlag«, sagte er. »In wenigen Minuten findet drüben die außerplanmäßige Sitzung statt. Ich lasse Sie so lange allein. Sie können im Holiday Inn frühstücken, es ist nur wenige Schritte von hier hinter dem Verwaltungsgebäude. Ein paar Eier mit Speck täten Ihnen gut, wenn Sie mich fragen. Starker Kaffee. Vorher nimmt im Nebenzimmer eine freundliche Dame Ihre Personalien auf, da müssen Sie durch. Hinterlassen Sie mir die Nummer des Verlags, wir kriegen raus, ob die gestern wirklich mit Kuhn gesprochen haben. Entweder ich finde Sie beide später im Hotel oder wieder hier, okay? Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie nach, während Sie frühstücken. Jedes Detail kann wichtig sein, auch wenn es Ihnen noch so unbedeutend vorkommt.« Er lächelte. »Den Spruch kennen

Sie mit Sicherheit schon aus dem Fernsehen.«

»Ein Bett wäre mir lieber«, stöhnte Wagner.

Dann fiel ihr ein, dass sie um halb fünf in der Redaktion des WDR erwartet wurde. Und anschließend bei RTL.

Auch das noch.

Andererseits, halb fünf war weit weg. Der WDR und RTL entglitten wieder in Vergessenheit.

»Eine Kleinigkeit noch«, sagte Lavallier im Hinausgehen. »Versuchen Sie Kuhn nicht weiter unter seiner Handynummer zu erreichen. Das machen wir ab jetzt. Alles klar?«

Wagner senkte zustimmend den Kopf.

O’Connor streichelte ihren Nacken. Er sagte ausnahmsweise nichts.

SPEDITION

Im Allgemeinen schnitten Entführer ihren Opfern die Ohren oder einen kleinen Finger ab und schickten sie den Angehörigen per Einschreiben zu. Das Entfernen von Körperteilen schien immer noch das probateste Mittel zu sein, Menschen von der Notwendigkeit größerer Geldausgaben zu überzeugen. Auf diese Weise waren Entführte wie Paul Getty jr. zwar freigekommen, aber gewissermaßen nicht ganz vollständig.

Als Kuhn sah, wie die Frau auf ihn zukam, mit der Linken einen Stuhl umklammert, fürchtete er mehr als den Tod die Möglichkeit, sie könne ihm mit einer blitzschnellen Bewegung irgendetwas abhacken, herunterschneiden oder ausstechen. Er presste sich gegen die Wand, vor der er seit Stunden saß, und versuchte, Abstand zu gewinnen. Die Lächerlichkeit des Vorhabens brachte ihm nichts ein als einen plötzlichen Schmerz im Handgelenk, als die Kette der Handschellen sich straffte und der stählerne Ring in sein Fleisch schnitt. Er stöhnte auf und schüttelte heftig den Kopf.

Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herunter.

»Besonders mutig scheinst du nicht zu sein«, sagte sie.

Kuhn zuckte zusammen. Wieder ein Indiz dafür, dass es dem Ende zuging. In der Nacht noch hatte sie ihn gesiezt und mit einer gewissen Höflichkeit behandelt. Zwar hatten sie und der Slawe ihm Löcher in den Bauch gefragt, ihn aber weder misshandelt noch angeschrien. Nach dem Telefonat mit Kika hatten sie ihm das Handy wieder abgenommen und es ausgeschaltet. Das war alles.

Schließlich hatte der Slawe die Halle verlassen, woraufhin die Frau in einem angrenzenden Raum verschwunden war. Kuhn schätzte, dass sie dort arbeitete oder ruhte. Für die Dauer der nächsten Stunden hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen. Natürlich konnte es ebenso gut sein, dass sie ihn beobachtete. Im fahlen Schein der Neonleuchten hatte Kuhns Blick die Halle erwandert und dicht unter der Decke etwas von der Größe einer Kamera ausgemacht. Bei genauem Hinsehen mutete es eher wie ein kurzes Fernrohr oder Teleobjektiv mit einer transparenten Glasplatte an, die unmittelbar vor der Linse befestigt war. Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wozu das Ding diente, und wollte es auch nicht wissen. Zutiefst deprimiert war er in sitzende Position gerutscht und hatte versucht, seine Angst mit Schlaf zu betäuben.