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Blaine nickte trübsinnig.

»Na ja, das ist also meine Leidensgeschichte«, sagte Melhill und wurde nun wieder etwas fröhlicher. »Und wie war das bei dir?«

»Meine Geschichte ist ziemlich lang«, sagte Blaine, »und manchmal klingt sie auch ein bißchen verrückt. Willst du sie ganz hören?«

»Klar. Haben ja ’ne Menge Zeit. Will ich jedenfalls hoffen.«

»O.K. Sie fängt im Jahre 1958 an. Moment, unterbrich mich nicht! Ich fuhr in meinem Wagen …«

Als er fertig war, lehnte Blaine sich gegen die gepolsterte Wand und atmete tief durch. »Glaubst du mir?« fragte er.

»Warum nicht? Zeitreisen sind doch nichts Neues. Sind nur illegal und teuer. Und diese Macker von Rex sind zu allem fähig.«

»Die Frauen da auch«, sagte Blaine, und Melhill grinste.

Eine Weile lang saßen sie in kameradschaftlichem Schweigen nebeneinander. Dann fragte Blaine: »Also wird man uns als Wirtskörper benutzen?«

»So sieht’s aus.«

»Und wann?«

»Wenn ein Kunde hereintorkeln sollte. Soweit ich das schätzen kann, bin ich schon eine Woche hier. Man kann jeden von uns in der nächsten Minute rausholen. Es kann aber noch eine Woche oder zwei dauern.«

»Und die löschen einfach unseren Geist aus?«

Melhill nickte.

»Aber das ist doch Mord!«

»Kann man wohl sagen«, stimmte Melhill ihm zu. »Aber noch ist es nicht passiert. Vielleicht machen die Bullen eine Razzia.«

»Das bezweifle ich.«

»Ich auch. Hast du eine Jenseitsversicherung? Vielleicht lebst du ja nach deinem Tod weiter.«

»Ich bin Atheist«, sagte Blaine. »Ich glaube nicht an solchen Kram.«

»Ich bin auch einer. Aber das Leben nach dem Tode ist eine Tatsache.«

»Ach, hör auf!« sagte Blaine mißmutig.

»Aber ja! Eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache!«

Blaine starrte den jungen Raumfahrer an. »Ray«, sagte er, »wie wär’s, wenn du mich mal auf den neuesten Stand bringen würdest? Erzähl mir, was seit 1958 passiert ist.«

»Das ist aber eine Menge Zeugs«, meinte Melhill. »Und ich bin nicht eben ein Bildungsmonster.«

»Nur so einen Eindruck. Was ist das für ein Jenseitskram? Und die Reinkarnationen und Wirtskörper? Was ist denn eigentlich los?«

Melhill lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Na gut, mal sehen. 1958. Um 1970 haben sie ein Schiff auf den Mond geschickt und ungefähr zehn Jahre später sind sie auf dem Mars gelandet. Dann hatten wir diesen Blitzkrieg mit Rußland wegen der Asteroiden – war ’ne reine Weltallsache. Oder war das mit China?«

»Ist egal«, sagte Blaine. »Was ist mit der Reinkarnation und dem Leben nach dem Tode?«

»Ich will versuchen, es dir so zu erzählen, wie sie’s uns auf der High School erzählt haben. Ich hab mal an einem Seminar teilgenommen, das ›Überblick über das Überleben der Seele‹ hieß.« Melhill runzelte die Stirn und konzentrierte sich angestrengt. »Zitat. ›Seit Urzeiten hat der Mensch gespürt, daß es eine unsichtbare Geistwelt gibt und hat vermutet, daß er an dieser Welt nach seinem körperlichen Tod teilhaben würde.‹ Ich nehme an, daß du das Zeug alles kennst. Die Ägypter, die Chinesen, die Alchimisten Europas und so weiter. Dann mache ich mal einen Sprung bis zur Rhine. Der lebte in deiner Zeit. Er untersuchte parapsychische Phänomene an der Duke-Universität. Schon mal von ihm gehört?«

»Klar«, sagte Blaine. »Was hat er entdeckt?«

»Eigentlich nichts. Aber er brachte die Kugel ins Rollen. Dann hat Kralski in Vilna die Sache übernommen und ein bißchen daran herumgefummelt. Das war 1987, in dem Jahr, in dem die Pirates ihre erste Weltmeisterschaft gewonnen haben. Um 2000 war da von Leddner. Der hat eine allgemeine Theorie über das Jenseits entwickelt, aber noch nichts bewiesen. Und schließlich kommen wir zu Professor Michael Vanning.

Professor Vanning war der Knabe, der die ganze Sache endgültig festgenagelt hat. Er hat bewiesen, daß Menschen nach ihrem Tod weiterleben. Hat sie kontaktiert, mit ihnen geredet, sie aufgenommen und so weiter. Hat absolut unumstößliche Beweise für das Leben nach dem Tode geliefert, wissenschaftliche Beweise. Da gab’s natürlich reichlich viel Gerede, auch religiöses Zeug. Kontroversen. Schlagzeilen. Ein großer Professorencrack an der Harvard-Universität, ein Typ namens James Archer Flynn, hat versucht zu beweisen, daß die ganze Sache ein Schwindel wäre. Er und Vanning haben sich jahrelang darüber in den Haaren gelegen.

Inzwischen war Vanning schon ein alter Mann und beschloß, den Löffel abzugeben. Er hat eine Menge Zeug in einen Safe gestopft, hier und dort Sachen versteckt, überall Kodeworte verteilt und versprochen, zurückzukommen, wie das Houdini auch getan, aber nicht gemacht hat. Dann -«

»Entschuldige«, unterbrach Blaine ihn, »aber wenn es tatsächlich ein Leben nach dem Tode gibt, warum ist Houdini dann nicht zurückgekommen?«

»Das ist eigentlich ganz einfach, aber bitte, alles der Reihe nach, ja? Jedenfalls hat Vanning sich umgebracht und einen langen Selbstmordbrief hinterlassen, über die unsterbliche Seele des Menschen und den unaufhaltsamen Fortschritt der gesamten Menschheit und so. Wird in einer Menge von Anthologien immer wieder abgedruckt. Später hat man dann rausgefunden, daß er dafür einen Ghostwriter gehabt hat, aber das ist eine andere Geschichte. Wo war ich?«

»Er hat Selbstmord begangen.«

»Ach ja. Und dann hat er doch tatsächlich Professor James Archer Flynn kontaktiert und ihm gesagt, wo er das ganze verborgene Zeug finden würde, die Kodeworte und so weiter. Das hat’s dann endgültig entschieden, Freund. Das Leben nach dem Tode war plötzlich in.«

Melhill stand auf, streckte sich und nahm wieder Platz. »Das Vanning-Institut«, fuhr er fort, »hat alle vor Hysterie gewarnt. Aber die gab’s nun mal. Die nächsten fünfzehn Jahre sind als Verrückte Vierziger bekannt.«

Melhill grinste und leckte sich die Lippen. »Hätte ich gern erlebt. Alle haben irgendwie draufgemacht. ›Ist doch egal, was du tust‹, lautete das Schlagwort, ›am Himmel hängt auch für dich ein Stück vom Kuchen!‹ Ob Heiliger, ob Sünder, ob gut ob böse, jeder bekommt ein Stück ab. Der Mörder wanderte genauso ins Jenseits wie der Erzbischof. Also los, Kinder, macht einen drauf und genießt euer Fleisch auf Erden, denn Geist gibt’s nach dem Tod noch genug. Tja, und da haben sie eben ordentlich auf die Pauke gehauen. Das war die reinste Anarchie. Dann ist eine neue Religion aufgekommen, die sich ›Verwirklichung‹ nannte. Die sagte allen Leuten, daß sie es sich schuldig wären, alles zu erfahren, gut und böse, schön und übel, denn das Jenseits wäre lediglich eine lange Erinnerung an das, was man auf Erden getan habe. Also tu es, sagte sie, deshalb bist du auf der Erde, tu es, sonst hast du im Jenseits schlechte Karten. Befriedige jedes Bedürfnis, jeden Trieb, erforsche deine schwärzesten Tiefen. High leben, high sterben. Man war völlig ausgeklinkt. Die richtigen Fanatiker bildeten Folterklubs und schrieben Enzyklopädien des Schmerzes, sammelten Foltern, wie eine Hausfrau Rezepte sammelt. Bei jeder Sitzung meldete sich ein freiwilliges Opfer, und das wurde dann auf die scheußlichste Weise gefoltert und umgebracht, die sie sich nur ausdenken konnten. Sie wollten das absolut Höchste in Freude und Schmerz erfahren. Und das haben sie wohl auch getan, schätze ich.«

Melhill wischte sich den Schweiß von der Stirn und fuhr etwas ruhiger fort: »Hab ein bißchen über die Verrückten Vierziger gelesen.«

»Das merkt man«, sagte Blaine.

»Ist ziemlich interessant. Aber dann kam der große Hammer. Das Vanning-Institut hatte die ganze Zeit weiter experimentiert. Um 2050, als die Verrückten Jahre noch in vollem Gang waren, erklärte es, daß es zwar ein Jenseits gebe, aber nicht für jeden.«