Eines Abends kehrte Blaine gerade erschöpft zu seinem Hotel zurück, als er in der dichten Menschenmenge ein Gesicht erkannte. Es war ein Mann, den er überall und zu jeder Zeit sofort wiedererkannt hätte … Er war ungefähr so alt wie Blaine selbst, ein gedrungener, rotköpfiger Mann mit Stupsnase, leicht vorstehenden Zähnen und einem kleinen roten Fleck am Hals. Er gab sich gutgelaunt und selbstsicher und hatte das unzerstörbare Selbstvertrauen eines Mannes, der immer noch irgendwie gerettet wird.
»Ray!« rief Blaine. »Ray Melhill!« Er drängte sich durch die Menge und packte ihn am Arm. »Ray! Wie bist du rausgekommen?«
Der Mann riß sich los und strich seinen Jackenärmel wieder glatt. »Ich heiße nicht Melhill«, sagte er.
»Sicher? Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher«, sagte er und wollte sich davonmachen.
Blaine stellte sich ihm in den Weg. »Einen Augenblick mal! Sie sehen genau wie er aus, bis hin zu der Verstrahlungsnarbe. Sind Sie sicher, daß Sie wirklich nicht Ray Melhill sind, ein Flußkontrolleur vom Raumer Bremen?«
»Ganz sicher«, sagte der Mann kühl. »Sie haben mich mit jemandem verwechselt, junger Mann.«
Blaine starrte den Mann entgeistert an als dieser anfing, sich zu entfernen. Dann langte er aus, packte den Mann an der Schulter und riß ihn herum.
»Sie dreckiger Körperklau! Sie Bastard!« brüllte Blaine und seine schwere rechte Faust schoß hervor.
Der Mann, der Melhill so genau glich, wurde gegen eine Gebäudewand geschleudert und sackte betäubt auf den Gehsteig. Blaine rannte auf ihn zu, und die Passanten wichen ihm schleunigst aus.
»Amokläufer!« schrie eine Frau und irgend jemand wiederholte den Ruf. Blaine erblickte eine blaue Uniform, die sich durch die Menge auf ihn zuschob.
Ein Bulle! Blaine duckte sich und verschwand in der Menge. Er ging schnell um eine Ecke, dann um eine weitere, manövrierte sich langsam an eine Wand und blickte zurück. Der Polizist war nicht zu sehen. Blaine ging wieder in Richtung Hotel.
Es war Melhills Körper gewesen, aber Melhill bewohnte ihn nicht mehr. Für ihn hatte es keine Rettung in letzter Minute gegeben, keine letzte Chance. Man hatte ihm seinen Körper fortgenommen und an den alten Mann verkauft, dessen zänkischer Geist den drahtigen Körper nun wie einen Anzug trug, der nicht besonders gut paßte und viel zu jugendlich für ihn war.
Nun wußte er, daß sein Freund wirklich tot war. Schweigend leerte er in der Bar neben dem Hotel ein Glas auf ihn, bevor er auf sein Zimmer zurückkehrte.
*
Der Angestellte hielt ihn auf, als er gerade am Empfangsschalter vorbeikam. »Blaine? Ich habe eine Nachricht für Sie. Einen Augenblick.«
Blaine wartete und fragte sich, von wem die Nachricht sein konnte. Marie? Aber er hatte Marie noch nicht angerufen und wollte es auch nicht tun, bevor er eine Stellung bekommen hatte.
Der Angestellte kam zurück und reichte ihm einen Zettel. Die Nachricht lautete: »Für Thomas Blaine gibt es eine Durchsage bei der Geistervermittlung, Filiale 23. Straße. Öffnungszeiten: neun bis siebzehn Uhr.«
»Ich frage mich nur, woher irgend jemand wissen konnte, wo ich wohne«, sagte Blaine.
»Geister haben da so ihre Methoden«, sagte der Angestellte. »Ich kannte mal jemanden, dessen verstorbene Schwiegermutter trotz dreier falscher Namen, einer Transplantation und einer kompletten hautchirurgischen Operation immer noch an ihn heran kam. Er hatte sich in Abessinien vor ihr versteckt.«
»Ich habe keine tote Schwiegermutter«, sagte Blaine.
»Nein? Wer soll Sie denn dann sonst erreichen wollen?« fragte der Angestellte.
»Ich werde es morgen feststellen und Ihnen davon erzählen«, versprach Blaine. Doch sein Sarkasmus war verschwendet. Der Angestellte hatte sich schon längst wieder umgedreht und widmete sich seinem Fernlehrgang in Atommaschinenwartung. Blaine ging hoch in sein Zimmer.
XIII
Die Filiale der Geistervermittlung in der 23. Straße war ein großes Betongebäude in der Nähe der Third Avenue. Über der Tür hing eine Erklärung: »Der kostenlosen Kommunikation zwischen den Irdischen und den Jenseitigen gewidmet«.
Blaine betrat das Gebäude und studierte den Wegweiser. Darauf fand er Hinweise auf Etagen- und Zimmernummer der Sparten Nachrichtenempfang, Nachrichtenaussendung, Übersetzungen, Abschwörungen, Exorzismen, Angebote, Bittgesuche und Ermahnungen. Er war sich nicht sicher, unter welche Rubrik er zu zählen war und was die Einteilungen überhaupt beinhalteten oder auch nur, was eigentlich der Zweck der Geistervermittlung war. Er ging mit seinem Zettel zum Informationsschalter.
»Das ist die Abteilung Nachrichtenempfang«, sagte eine freundliche, grauhaarige Empfangsdame. »Gerade durch den Saal bis zum Zimmer 32A.«
»Danke.« Blaine zögerte, dann sagte er: »Könnten Sie mir vielleicht noch etwas anderes erklären?«
»Aber gern«, sagte die Frau. »Was möchten Sie denn wissen?«
»Na ja, ich hoffe, daß das … nicht allzu dumm klingt, aber … was ist das hier?«
Die grauhaarige Frau lächelte. »Das läßt sich schwer beantworten. Wenn man es philosophisch betrachtet, dann ist die Geistervermittlung wohl ein Schritt auf eine größere Einheit zu, ein Versuch, den Dualismus zwischen Geist und Körper aufzuheben und dafür -«
»Nein«, sagte Blaine, »ich meine ganz wörtlich.«
»Wörtlich? Nun, die Geistervermittlung ist eine Privatorganisation, die steuerfrei arbeitet und als Vermittlungsstelle zwischen der Schwelle des Jenseits und der Erde dient, um die Kommunikation zu ermöglichen. In manchen Fällen benötigen Leute natürlich unsere Hilfe nicht, da sie allein dazu in der Lage sind, mit ihren Verstorbenen zu kommunizieren. Aber normalerweise braucht man eine Verstärkung. Dieses Zentrum besitzt das nötige Zubehör, um die Verstorbenen für menschliche Ohren hörbar zu machen. Außerdem bieten wir noch andere Dienstleistungen an, etwa Abschwörungen, Exorzismen, Ermahnungen und so weiter, die dann und wann angebracht sind, wenn der Geist wieder mit dem Fleisch zusammentrifft.«
Sie lächelte ihn voller Wärme an. »Sind Sie jetzt besser im Bilde?«
»Recht vielen Dank«, sagte Blaine und schritt durch den Saal zu Zimmer 32A.
Es war ein kleiner grauer Raum mit mehreren Armlehnensesseln und einem in die Wand eingelassenen Lautsprecher. Blaine setzte sich und fragte sich, was nun wohl geschehen würde.
»Tom Blaine!« rief eine körperliche Stimme aus dem Lautsprecher.
»Häh? Was?« fragte Blaine und sprang auf, um an die Tür zu gehen.
»Tom! Wie geht’s dir, alter Junge?«
Blaine, dessen Hand bereits auf dem Türknauf ruhte, erkannte plötzlich die Stimme. »Ray Melhill?«
»Richtig! Ich bin hier oben, wo die reichen Macker hinkommen, wenn sie sterben. Ganz gut, was?«
»Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts«, sagte Blaine. »Aber Ray, wie nur? Ich dachte, du hättest keine Jenseitsversicherung?«
»Hatte ich auch nicht. Ich will dir die ganze Geschichte erzählen. Man hat mich ungefähr eine halbe Stunde, nachdem sie dich abgeführt haben, auch geholt. Ich war so verdammt wütend, daß ich dachte, ich würde durchdrehen. Ich blieb auch während der Chloroformbehandlung wütend und schließlich auch während des Auslöschens. Ich war immer noch wütend, als ich starb.«
»Wie war das, zu sterben?« fragte Blaine.
»Wie explodieren. Ich fühlte, wie ich überallhin verteilt wurde, so groß wurde wie die Galaxis und in Teile zerbrach; die Teile wurden in noch kleinere Teile zersplittert – und das alles war ich.«
»Was ist dann passiert?«