»Weiß ich nicht. Vielleicht war es ganz gut, so wütend zu sein. Ich wurde so weit auseinandergedehnt, daß es nicht mehr weiter ging – noch weiter, und das wäre nicht mehr ich gewesen –, und dann bin ich einfach wieder zusammengekommen. Manchen Leuten passiert das ja. Hab dir ja erzählt, daß einer von einer Million auch ohne Jenseitstraining überlebt, schon immer. Ich war einer von diesen Glückspilzen.«
»Ich schätze, daß du alles über mich weißt«, sagte Blaine. »Ich hab versucht, was für dich zu tun, aber du warst schon verkauft worden.«
»Ich weiß«, sagte Melhill. »Trotzdem danke, Tom. Ach ja, und vielen Dank, daß du diesem Mistkerl eins reingehauen hast. Der Typ, der in meinem Körper rumrennt.«
»Das hast du gesehen?«
»Ich hab die Augen offengehalten«, sagte Melhill. »Ach, was ich noch sagen wollte, diese Marie gefällt mir. Hübsches Mädchen.«
»Danke Ray. Wie ist es so im Jenseits?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nicht?«
»Ich bin noch nicht im Jenseits, Tom. Ich bin auf der Schwelle. Das ist ein Vorbereitungsstadium, eine Art Brücke zwischen der Erde und dem Jenseits. Es ist schwer zu beschreiben. Eine Art Grau, die Erde ist auf der einen Seite und das Jenseits auf der anderen.«
»Warum gehst du nicht hinüber?« fragte Blaine.
»Jetzt noch nicht«, sagte Melhill. »Ins Jenseits führt nur eine Einbahnstraße. Wenn du einmal drüben bist, kannst du nicht mehr zurück, dann gibt es keinen Kontakt mit der Erde mehr.«
Blaine dachte einen Augenblick darüber nach, dann fragte er: »Wann wirst du denn hinübergehen, Ray?«
»Ich weiß es noch nicht so recht. Ich hab mir gedacht, daß ich wohl eine Weile an der Schwelle bleibe und ein bißchen auf die Dinge aufpasse.«
»Auf mich aufpaßt, meinst du wohl.«
»Na ja …«
»Vielen Dank, Ray, aber tu es nicht. Geh ins Jenseits. Ich kann schon auf mich achtgeben.«
»Klar kannst du das«, sagte Melhill. »Aber ich glaube, daß ich trotzdem noch eine Weile hier herumhängen werde. Du würdest es doch auch für mich tun, nicht wahr? Also, dann widersprich mir nicht! Aber jetzt hör mal zu, ich vermute, daß du weißt, daß du in Schwierigkeiten bist?«
Blaine nickte. »Du meinst den Zombie?«
»Ich weiß nicht, wer er ist oder was er von dir will, Tom, aber es ist auf jedenfall nichts Gutes. Wenn er es merkt, dann ist es auf jeden Fall besser, du bist ganz weit weg. Aber das waren nicht die Schwierigkeiten, die ich gemeint habe.«
»Meinst du etwa, daß da noch mehr sind?«
»Ich fürchte schon, Tom, du wirst heimgesucht werden.«
Blaine konnte nicht anders, er mußte lachen.
»Was ist daran so lustig?« fragte Melhill verärgert. »Meinst du, das wäre ein Spaß, heimgesucht zu werden?«
»Ich schätze nein. Aber ist das denn wirklich so schlimm?«
»Herrje, du bist vielleicht ein Ignorant!« rief Melhill. »Weißt du irgend etwas über Gespenster? Wie sie entstehen und was sie wollen?«
»Erzähl es mir.«
»Na ja, es gibt da drei Möglichkeiten, wenn ein Mensch stirbt. Erstens kann sein Geist einfach explodieren, sich verteilen, auflösen, das ist dann das Ende. Zweitens kann sein Geist auch das Todestrauma überleben, zusammenbleiben, dann findet er sich an der Schwelle wieder, als Geist eben. Ich nehme an, daß du von diesen beiden Möglichkeiten weißt.«
»Red weiter«, sagte Blaine.
»Die dritte Möglichkeit ist die: Sein Geist zerbricht während des Todestraumas, aber nicht genug, um aufgelöst zu werden. Er kommt bis an die Schwelle. Aber die Anstrengung hat ihn beschädigt. Er ist verrückt geworden. Und so entsteht ein Gespenst, mein Freund.«
»Hm«, sagte Blaine. »Dann ist ein Gespenst also ein Geist, der während des Todestraumas verrückt geworden ist?«
»Genau. Er ist verrückt, und er spukt.«
»Aber warum?«
»Gespenster spuken«, sagte Melhill, »weil sie angefüllt sind mit Haß, Wut, Furcht und Schmerz. Sie wollen nicht ins Jenseits. Sie wollen so lange wie möglich auf der Erde bleiben, auf die sich ihre Aufmerksamkeit immer noch richtet. Sie wollen Leute erschrecken, ihnen wehtun, sie in den Wahnsinn treiben. Das Spuken ist das antisozialste, was sie tun können, es ist ihr Wahnsinn. Schau mal, Tom, seit den Anfängen der Menschheit …«
*
Seit den Anfängen der Menschheit hatte es immer schon Gespenster gegeben, aber ihre Zahl war immer gering. Nur ein paar Menschen pro Million überlebten ihren Tod, und nur ein winziger Prozentsatz dieser Überlebenden wurde während des Übergangs wahnsinnig und wurde zu Gespenstern.
Aber die Wirkung, die diese wenigen auf die vom Tode faszinierte Menschheit ausübte, war kolossal; auf eine Menschheit, die erschreckt war von der kalten, achtlosen Unbeweglichkeit einer Leiche, die vor kurzem noch so lebendig und schnell gewesen war, schockiert von dem grausigen, beziehungslosen Humor des Skeletts. Die gründliche, geheimnisvolle Gestalt des Todes schien unendlich bedeutungsvoll zu sein, ihr warnender Finger zeigte auf einen mit Geistern angefüllten Himmel. So kam es, daß für jedes echte Gespenst durch Gerüchte und Angst tausend weitere erfunden wurden. Jede schreiende Fledermaus wurde zu einem Gespenst. Moorfeuer, flatternde Vorhänge und schwankende Bäume wurden zu Gespenstern, und St.-Elms-Feuer, großäugige Eulen, Ratten im Gemäuer, Füchse im Gebüsch, sie alle wurden zu Beweisen für das Gespenstische gemacht. Die Volksüberlieferungen blühten und brachten Hexen und Zauberer hervor, bösartige kleine Familiare, Dämonen und Teufel, Sukkubi und Inkubi, Werwölfe und Vampire. Hinter jedem Gespenst witterte man tausend weitere, und für jede übernatürliche Tatsache nahm man eine Million weitere an.
Die frühen Wissenschaftler traten bei ihren Forschungen in dieses Labyrinth ein und versuchten, die Wahrheit über übernatürliche Erscheinungen herauszubekommen. Sie entlarvten zahllose Betrügereien, Halluzinationen und Fehlurteile. Und sie fanden einige echte, unerklärliche Geschehnisse, die, wenn auch interessant, statistisch insignifikant waren.
Die ganzen Volksüberlieferungen würden über den Haufen geworfen. Statistisch gesehen gab es keine Gespenster. Aber dennoch war da beständig ein heimtückisches, nicht festzumachendes Etwas, das sich weigerte, stillzuhalten und sich untersuchen zu lassen. Jahrhundertelang ignorierte man es, dieses seltene Etwas, das den Erzählungen von Sukkubi und Inkubi eine Grundlage und Realität bescherte. Bis die Wissenschaft schließlich die Volkslegenden einholte, ihnen einen Platz unter den unanfechtbaren Erscheinungen einräumte und sie salonfähig machte.
Als das wissenschaftliche Jenseits entdeckt worden war, verstand man das irrationale Gespenst als einen wahnsinnig gewordenen Geist, der die neblige Zwischenwelt zwischen Erde und Jenseits bewohnte. Die Arten des Gespensterwahnsinns ließen sich genauso kategorisieren wie der Wahnsinn auf der Erde. Es gab die Melancholiker, die trübsinnig durch die Bilder ihrer großen Leidenschaften schwebten; den flüsternden Hebephreniker, der fröhlichen, willkürlichen Unsinn daherplapperte; die Idioten und Retardierten, die in der Verkleidung von kleinen Kindern wiederkamen; die Schizophrenen, die sich für Tiere hielten, Prototypen des Vampirs und des Schneemenschen, des Werwolfs, Wertigers, Werfuchses, Werhunds. Es gab die zerstörerischen, steinewerfenden, brandstiftenden Gespenster, die Poltergeister und die großsprecherischen Paranoiker, die sich selbst für Luzifer oder Beelzebub hielten, für Israfael oder Azazael, den Geist der Vergangenen Weihnacht, für die Furien, die Göttliche Gerechtigkeit oder sogar für den Tod persönlich.
Spuk war Wahnsinn. Sie weinten am alten Wachturm, diese wenigen Gespenster, auf deren schimmernden Schultern das ganze große Gebäude der Volksüberlieferung ruhte, sie vermengten sich mit den Nebeln am Galgen und stammelten ihren Unsinn bei Seancen hervor. Sie redeten, weinten, tanzten und sangen zur Belustigung der Leichtgläubigen, bis wissenschaftliche Beobachter mit ihren nüchternen, kalten Fragen erschienen. Da flohen sie zurück an die Schwelle, entsetzt von diesem Gegenschlag der Vernunft, um ihre Illusionen bangend, in der Furcht, kuriert zu werden.