»Vor mir erstreckt sich nun die Langeweile wie eine riesige, unfruchtbare Ebene – und ich ziehe es vor, mich nicht zu langweilen. Ich ziehe es statt dessen vor, weiterzugehen, vorwärtszugehen, hinauszugehen; das letzte große Abenteuer der Erde zu kosten – das Abenteuer des Todes, des Tors zum Jenseits. Verstehen Sie das?«
»Natürlich«, sagte Blaine, der von Hulls theatralischem Benehmen irritiert, aber auch beeindruckt war. »Aber warum die Eile? Das Leben könnte doch immer noch ein paar schöne Sachen für Sie in petto haben. Der Tod ist doch sowieso unvermeidlich. Warum ihn dann beschleunigen?«
»Wie ein echter Optimist des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen«, sagte Hull lachend. »›Das Leben ist wirklich, das Leben ist ernst …‹ In Ihrer Zeit mußte man doch einfach daran glauben, daß das Leben wirklich und ernst sei. Was gab es denn für Alternativen? Wie viele von Ihnen haben denn wirklich an ein Leben nach dem Tode geglaubt?«
»Das ändert nichts am Wert meines Standpunkts«, sagte Blaine und haßte die verhaltene, vorsichtige, rationale Position, in die er gedrängt wurde.
»Aber ja doch! Die Perspektiven des Lebens und des Todes haben sich jetzt geändert. Anstatt Longfellows weitschweifigem Rat zu folgen, halten wir uns nun an Nietzsches Diktum – zur rechten Zeit zu sterben! Intelligente Menschen klammern sich nicht an die letzten Reste des Lebens wie Ertrinkende an ein Stück Holz. Sie wissen, daß das Leben des Körpers nur ein unendlich winziger Teil der Gesamtexistenz des Menschen ist. Warum sollten sie da nicht den Abgang des Körpers um ein paar Jahre beschleunigen, wenn ihnen danach ist? Warum sollten diese klugen Schüler nicht die eine oder andere Klasse überspringen? Nur die Verängstigten, die Dummen, die Ungebildeten klammern sich an jede nur mögliche monotone Sekunde auf Erden.«
»Die Verängstigten, Dummen und Ungebildeten«, wiederholte Blaine. »Und die Unglücklichen, die sich keine Jenseitsversicherung leisten können.«
»Reichtum und Klasse haben eben ihre Privilegien«, sagte Hull mit mattem Lächeln. »Ebenso wie ihre Verpflichtungen. Eine dieser Verpflichtungen besteht darin, zur rechten Zeit zu sterben bevor man anfängt, seine Zeitgenossen zu langweilen und sich selbst abscheulich zu werden. Aber der Akt des Sterbens transzendiert Klasse und Herkunft. Er ist der Adelsbrief eines jeden Menschen, sein Königsruf, sein ritterliches Abenteuer, die größte Tat seines Lebens. Und wie er sich bei diesem einsamen und gefährlichen Unternehmen hält, das ist sein wahrer Wertmaßstab als Mensch.«
Hulls blaue Augen glitzerten intensiv. Er sagte: »Ich wünsche nicht, dieses wichtige Ereignis im Bett zu erleben. Ich wünsche keinen langweiligen, zahmen, alltäglichen Tod, der mich als Schlaf verkleidet überfällt. Ich wünsche – kämpfend zu sterben.«
Blaine nickte und bedauerte seinen eigenen prosaischen Tod. Ein Autounfall! Wie langweilig, zahm und alltäglich! Und wie seltsam, dunkel, atavistisch und edel wirkte Hulls herrscherliche Todeswahl dagegen! Anmaßend natürlich; aber schließlich war das Leben selbst ja auch nichts als eine Anmaßung in dem riesigen Universum unbelebter Materie. Hull war wie ein alter japanischer Edelmann, der sich ruhig hinkniete, um die Zeremonie des Hara-Kiri durchzuführen und die Wichtigkeit des Lebens sogar in der Wahl seines Todes zu betonen wußte. Aber Hara-Kiri war ein passives östliches Ritual, während Hulls Form des Sterbens ein westlicher Tod war, wild, gewalttätig, ekstatisch.
Es war bewundernswert. Aber immens irritierend für einen Menschen, der noch nicht bereit war, zu sterben.
Blaine sagte: »Ich habe nichts dagegen, daß Sie oder jeder andere Mensch sich seinen eigenen Tod selbst aussucht. Aber was ist mit den Jägern, die Sie töten wollen? Sie haben es sich nicht ausgesucht zu sterben und werden auch nicht im Jenseits überleben.«
Hull zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich dafür entschieden, gefährlich zu leben. In Nietzsches Terminologie, sie ziehen es vor, Risiko und Gefahr zu erleben und mit dem Tod Würfel zu spielen. Blaine, haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Nein.«
»Dann treffen wir uns am Sonntag.«
Blaine schritt zur Tür und empfing seinen Zettel mit den Anleitungen von dem Butler. Als er gerade gehen wollte, sagte er noch: »Ich frage mich, ob Sie wohl eine letzte Sache bedacht haben.«
»Und die wäre?« fragte Hull.
»Sie müssen einfach dran gedacht haben«, sagte Blaine. »Die Möglichkeit, daß diese ganze elaborierte Sache – das wissenschaftliche Jenseits, Stimmen der Toten, Gespenster – lediglich ein gigantischer Schwindel sein könnte, ein Betrug der alten Jenseits, Inc., um damit Geld zu verdienen.«
Hull stand völlig still da. Als er sprach, schwang eine Andeutung von Ärger in seiner Stimme mit: »Das ist völlig unmöglich. Nur ein sehr ungebildeter Mensch könnte so etwas denken.«
»Vielleicht«, sagte Blaine. »Aber Sie wären ja wohl ziemlich gelackmeiert, wenn es tatsächlich ein Schwindel wäre, was? Guten Morgen, Mr. Hull.«
Er ging, froh, diesen geschniegelten, selbstzufriedenen, vornehmen, redegewandten Bastard wenigstens einen Augenblick lang aus der Fassung gebracht zu haben – und traurig, daß sein eigener Tod so langweilig, zahm und alltäglich gewesen war.
XVI
Am nächsten Tag, es war Sonnabend, ging Blaine zu Franchels Apartment, um sein Gewehr, das Bajonett, seine Jägeruniform und seinen Rucksack abzuholen. Er bekam die Hälfte seines Lohns minus zehn Prozent und die Kosten für die Ausrüstung. Das Geld war ihm sehr willkommen, denn er hatte nur noch drei Dollar und ein bißchen Kleingeld.
Er ging zur Geistervermittlung, aber Melhill hatte keine weiteren Nachrichten für ihn hinterlassen. Er kehrte in sein Hotelzimmer zurück und verbrachte den Nachmittag damit, Stoßen und Parieren zu üben.
An diesem Abend war Blaine immer gespannt und mutlos, wenn er an die Jagd denken mußte, die am nächsten Tag begann. Er ging in eine kleine Cocktailbar an der West Side, die wie eine Bar aus dem zwanzigsten Jahrhundert aufgemacht war, mit einer dunklen, glänzenden Theke, Holzhockern, Nischen, einem Messinggeländer und Sägespänen auf dem Fußboden. Er schlüpfte in eine Nische und bestellte Bier.
Die klassischen Neonleuchten glommen sanft, und eine echt antike Jukebox spielte sentimentale Melodien von Glenn Miller und Benny Goodman. Blaine saß über seinem Bierglas zusammengesunken und fragte sich verzweifelt, wer und was er eigentlich war.
War es wirklich wahr, daß er einen Gelegenheitsjob als Jäger und Menschentöter angenommen hatte?
Was war denn mit Tom Blaine passiert, dem ehemaligen Konstrukteur von Segelbooten, dem ehemaligen Hi-Fi-Hörer, dem ehemaligen Leser guter Bücher, dem ehemaligen Besucher guter Theateraufführungen? Was war mit diesem stillen, sardonischen, unaggressiven Mann geschehen?
Dieser Mann, der in seinem schlanken, nervösen, bescheidenen Körper gehaust hatte, hätte doch wohl nie getötet!
Oder?
War dieser wohlbekannte und vermißte Blaine von dem großen, klobig-muskulösen Kämpferkörper mit den schnellen Reflexen besiegt worden, den er nun besaß? Und war dieser Körper mit seinen eigenen merkwürdigen Drüsensekretionen in dem dunklen Blutkreislauf, mit seinem eigenen, individuell geformten und strukturierten Gehirn, mit seinem eigenen System von Nerven und Signalen und Reaktionen – war dieser dominierende Körper für alles verantwortlich, zog er seinen hilflosen Besitzer in mörderische Gewalttätigkeit herab?
Blaine rieb sich die Augen und sagte sich, daß er Unsinn träumte. Die Wahrheit war schlicht diese: Er war durch Umstände, die sich seiner Kontrolle entzogen hatten, gestorben, in der Zukunft wiedergeboren worden und hatte festgestellt, daß er keine Stellung finden konnte außer der eines Jägers, quod erat demonstrandum.