Aber diese rationale Erklärung befriedigte ihn nicht, und er hatte keine Zeit mehr, die schlüpfrige, ausweichende Wahrheit zu suchen.
Er war kein distanzierter Beobachter des Jahres 2110 mehr. Er war ein parteiischer Teilnehmer geworden, ein Schauspieler anstatt ein Zuschauer zu sein, mit der ganzen gedankenlosen Eile und Hektik eines Schauspielers. Das Handeln war unwiderstehlich, es entwickelte seine eigene, augenblickliche Wahrheit. Die Bremsen waren gelöst worden, und nun rollte Blaine den steilen Hügel des Lebens hinab, Tempo und Schub gewinnend aber keinerlei Moos ansetzend. Vielleicht war dies nun endlich seine letzte Chance, einen Blick zu erheischen, Bilanz zu ziehen, eine wohlabgewogene Wahl zu treffen …
Aber es war schon zu spät, denn ein Mann schlich wie ein Schatten über die Welt und setzte sich ihm gegenüber in die Nische. Und schon blickte Blaine in das bleiche und unbewegliche Gesicht des Zombies.
»Guten Abend«, sagte der Zombie.
»Guten Abend«, sagte Blaine gefaßt. »Möchten Sie vielleicht einen Drink?«
»Nein danke. Meinem Kreislauf bekommen Stimulantien nicht.«
»Das tut mir leid zu hören«, sagte Blaine.
Der Zombie zuckte mit den Schultern. »Ich habe jetzt einen Namen«, sagte er. »Ich habe mich dazu entschlossen, mich Smith zu nennen, bis ich mich an meinen richtigen Namen erinnern kann. Smith. Gefällt er Ihnen?«
»Es ist ein schöner Name«, sagte Blaine.
»Danke. Ich war beim Arzt«, sagte Smith. »Er hat mir gesagt, daß mein Körper nichts taugt. Keine Kondition, keine Selbstheilungskräfte.«
»Kann man Ihnen nicht helfen?«
Smith schüttelte den Kopf. »Der Körper ist ganz definitiv zomboid. Ich habe ihn viel zu spät besetzt. Der Doktor gibt mir höchstens ein paar Monate.«
»Wirklich schade«, sagte Blaine und spürte, wie ein Ekelgefühl in seinem Hals hochkam, als er dieses trübe, bleichhäutige Gesicht mit den dicken Zügen sah, mit seinem unharmonischen Ausdruck und den geduldigen Buddhaaugen. Smith saß da, zusammengesackt und unnatürlich in seinen groben Arbeitskleidern, sein schwarzgepunktetes weißes Gesicht war glattrasiert und roch nach einem starken Rasierwasser. Aber er hatte sich verändert. Schon jetzt konnte Blaine eine gewisse ledrige Trockenheit in der einstmals geschmeidigen Haut erkennen, gewisse Hautrisse um Nase, Augen und Mund herum, winzige Falten auf der Stirn, wie Werkzeugspuren im alten Leder. Und vermengt mit dem starken After-Shave meinte Blaine den ersten feinen Geruch der Verwesung wahrzunehmen.
»Was wollen Sie von mir?« fragte Blaine.
»Ich weiß es nicht.«
»Dann lassen Sie mich allein.«
»Das kann ich nicht«, beteuerte Smith.
»Wollen Sie mich umbringen?« fragte Blaine, und sein Hals war trocken.
»Ich weiß es nicht! Ich kann mich nicht erinnern! Sie umbringen, Sie beschützen, Sie verstümmeln, Sie lieben – ich weiß es noch nicht. Aber ich werde mich bald daran erinnern, Blaine, ich verspreche es Ihnen!«
»Lassen Sie mich allein«, sagte Blaine, und seine Muskeln verspannten sich.
»Das kann ich nicht«, sagte Smith. »Verstehen Sie das denn nicht? Ich kenne nichts außer Ihnen. Wortwörtlich nichts! Ich kenne weder diese Welt noch irgend jemanden sonst, keine Person, kein Gesicht, weder Geist noch Gedächtnis. Sie sind meine einzige Orientierungshilfe, der Mittelpunkt meiner Existenz, mein einziger Grund, zu leben.«
»Hören Sie auf damit!«
»Aber es stimmt doch! Glauben Sie, daß es mir Spaß macht, dieses Gestell aus Fleisch über die Straßen zu zerren? Was hat das Leben denn für einen Wert für mich, wenn ich keine Hoffnung vor mir und keine Erinnerungen hinter mir habe? Da ist der Tod doch besser! Das Leben bedeutet widerliches, verwesendes Fleisch, der Tod bedeutet reiner Geist! Ich habe darüber nachgedacht, davon geträumt: schöner, fleischloser Tod! Aber eine Sache hält mich ab. Ich habe Sie, Blaine, um mich in Gang zu halten!«
»Gehen Sie hier weg«, sagte Blaine mit einem bitteren ekligen Geschmack im Mund.
»Sie, meine Sonne und mein Mond, meine Sterne, meine Erde, mein ganzes Weltall, mein Leben, mein Sinn, mein Freund, Feind, Geliebter, Mörder, meine Frau, mein Vater, mein Kind, mein Mann -«
Blaines Faust schoß hervor und traf Smith hoch oben am Backenknochen. Der Zombie wurde in der Nische zurückgeworfen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber auf seinem bleifarbenen Wangenknochen erschien eine große purpurne Schramme.
»Ihr Mal!« murmelte Smith.
Blaines Faust, die sich zu einem weiteren Schlag gehoben hatte, fiel herab.
Smith stand auf. »Ich gehe. Passen Sie auf sich auf, Blaine. Sterben Sie noch nicht jetzt! Ich brauche Sie. Bald werde ich mich erinnern, dann komme ich zu Ihnen.«
Smith verließ die Bar. Sein trübes, schlaffes, zerschrammtes Gesicht war ausdruckslos.
Blaine bestellte einen doppelten Whisky und saß eine lange Zeit davor; er versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen.
XVII
Eine Stunde vor Sonnenaufgang kam Blaine in einem ländlichen Jetbus am Anwesen von Hull an. Er trug die traditionelle Jägeruniform – Khakihemd und -hose, Schuhe mit Gummisohlen und einen Hut mit breiter Krempe. Über seine Schulter hatte er sein Feldpack geschlungen; an der anderen trug er sein Gewehr und das Bajonett in einem Plastiksack.
Am Außentor nahm ihn ein Diener in Empfang und führte zu dem niedrigen, weiträumigen Landhaus. Blaine erfuhr, daß das Hullsche Anwesen aus neunzig Morgen Waldland in den Adirondack-Bergen zwischen Keene und Elizabethtown bestand. Hier hatte, so erzählte ihm der Diener, Hulls Vater im Alter von einundfünfzig Jahren Selbstmord begangen und sechs Jäger mitgehen lassen, bis ihm schließlich ein Säbelmann den Kopf abgeschlagen hatte. Ein ruhmreicher Tod! Hulls Onkel hatte sich auf der anderen Seite dazu entschlossen, in San Francisco amokzulaufen, in einer Stadt, die er immer sehr gemocht hatte. Die Polizei hatte ihn zwölfmal anstrahlen müssen, bis er zusammengebrochen war, und er hatte sieben Passanten getötet. Die Zeitungen hatten viel über diese Tat berichtet, und die Berichte wurden in der Familienchronik aufbewahrt.
Das zeigte eben, meinte der geschwätzige Haushälter, wie unterschiedlich doch die Temperamente sein konnten. Manche, wie etwa der Onkel, waren freundliche, das Vergnügen schätzende Männer, die gerne in einer Menge sterben und dabei auch noch ein wenig Aufmerksamkeit erheischen wollten. Andere, wie der gegenwärtige Mr. Hull, liebten mehr die Einsamkeit und die Natur.
Blaine nickte freundlich, als ihm dies erzählt wurde und wurde in einen großen rustikalen Raum gebracht, wo die Jäger sich versammelt hatten, Kaffee tranken und ihre Waffen ein letztes Mal polierten und schliffen. Das Licht blitzte an dem Breitschwert aus Blaustahl und der silbrigen Streitaxt ab, flackerte über die polierte Speerspitze und glitzerte frostig von den diamantenförmigen Spitzen des Streitkolbens und des Siebensterns. Auf den ersten Blick meinte Blaine, daß es aussehe wie eine Szene aus dem Mittelalter. Doch als er noch einmal darüber nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß es eher wie eine Kinoszene wirkte.
»Hol dir ’n Stuhl, Kamerad!« rief der Axtmann. »Willkommen in der Barmherzigen Schutzgemeinschaft der Schlächter, Schlachthofmänner und Freistreunenden Killer! Ich bin Sammy Jones, der beste Axtmann in den Amerikas und wahrscheinlich auch von Europa.«
Blaine setzte sich und wurde den anderen Jägern vorgestellt. Es war etwa ein halbes Dutzend Nationalitäten darunter, aber alle sprachen Englisch miteinander.
Sammy Jones war ein gedrungener, schwarzhaariger Mann mit Stierschultern, der ausgebleichte, geflickte Khakikleidung trug und auf seinem rissigen Gesicht alte Jagdnarben hatte.