Es hatte keinen Zweck, die Worte zogen nicht. Er hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt. Man gewöhnt sich an alles, dachte er, sogar an den eigenen Tod. Besonders an den eigenen Tod. Wahrscheinlich konnte man einen Menschen zwanzig Jahre lang dreimal am Tag den Kopf abhauen, und er würde sich daran gewöhnen und weinen, wenn man damit aufhörte …
Er wollte diesen Gedankenstrang nicht weiter verfolgen.
Er dachte an Laura. Würde sie ihn beweinen? Würde sie sich besaufen? Oder würde sie sich von der Nachricht nur deprimiert fühlen und ein Beruhigungsmittel schlucken? Was war mit Jane und Miriam? Würden sie überhaupt von seinem Tod erfahren? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht würden sie sich später Gedanken machen, warum er nicht mehr anrief. Genug davon. Das war alles Vergangenheit. Jetzt war er in der Zukunft.
Aber alles, was er bisher von der Zukunft gesehen hatte, war ein weißes Bett und ein weißes Zimmer, Ärzte und Krankenschwestern, Aufnahmeleute und ein hübsches Mädchen. Bisher hatte er noch keinen großen Unterschied zu seiner eigenen Zeit entdecken können. Aber es gab bestimmt Unterschiede.
Er erinnerte sich an Zeitungsartikel und Erzählungen, die er mal gelesen hatte. Heutzutage mochte es vielleicht überall Atomenergie geben, Unterwasserlandwirtschaft. Weltfrieden, internationale Geburtenkontrolle, interplanetare Reisen, freie Liebe, völlige Aufhebung der Rassentrennung, ein Mittel gegen jede Krankheit und eine geplante Gesellschaft, in der die Menschen in tiefen Zügen die Luft der Freiheit atmeten.
So sollte es sein, dachte Blaine. Aber es gab auch unangenehmere Möglichkeiten. Vielleicht hielt ein grimmiger Oligarch die Erde in seinem eisernen Griff, während eine kleine, aufopfernde Untergrundbewegung für die Freiheit kämpfte. Oder vielleicht hatten kleine, gallertartige Lebewesen die menschliche Rasse versklavt. Möglicherweise strich eine neue, fürchterliche Seuche ungehindert durchs Land, oder die vom Wasserstoffbombenkrieg von allen Kulturen beraubte Erde rappelte sich langsam und schmerzvoll wieder hoch, um eine technologische Zivilisation aufzubauen, während menschliche Wolfshorden das Hinterland unsicher machten; oder vielleicht waren Millionen ähnlich unerfreulicher Dinge geschehen.
Und doch zeigte die Menschheit eine historische Fähigkeit, die Extreme der Vernichtung und der Glückseligkeit zu vermeiden, dachte Blaine. Immer wurde das Chaos vorausgesagt, und andauernd wurde Utopia prognostiziert, und beides traf nie ein.
Folglich nahm Blaine an, daß diese Zukunft einige Verbesserungen gegenüber der Vergangenheit aufweisen würde, aber er rechnete auch mit sicheren Verschlechterungen. Einige der alten Probleme wären wohl gelöst, doch dafür würde es bestimmt neue geben. »Kurzum«, sagte Blaine zu sich selbst, »ich erwarte, daß diese Zukunft so sein wird wie alle Zukünfte im Vergleich zu ihren Vergangenheiten. Das ist zwar nicht sonderlich genau, aber schließlich bin ich nicht in der Futurologen- oder Prophetenbranche.«
Seine Gedanken wurden durch Marie Thorne unterbrochen, die forsch ins Zimmer trat.
*
»Guten Morgen«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?«
»Wie ein neuer Mensch«, antwortete Blaine, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Schön. Würden Sie das hier bitte unterschreiben?« Sie hielt ihm einen Schreiber und ein bedrucktes Stück Papier hin.
»Sie sind ja verdammt effizient«, sagte Blaine. »Was soll ich da unterschreiben?«
»Lesen Sie es durch«, sagte sie. »Es ist eine Erklärung, die uns von allen rechtlichen Haftungsansprüchen wegen Ihrer Lebensrettung enthebt.«
»Haben Sie denn mein Leben gerettet?«
»Natürlich. Was glauben Sie denn, wie Sie sonst hierher gekommen wären?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gab Blaine zu.
»Wir haben Sie gerettet. Aber es verstößt gegen das Gesetz, das ohne die schriftliche Einwilligung des potentiellen Opfers zu tun. Die Anwälte der Rex Corporation waren jedoch nicht dazu in der Lage, Ihre Einwilligung vorab einzuholen. Deswegen möchten wir uns jetzt ganz gerne schützen.«
»Was ist die Rex Corporation?«
Sie blickte verärgert drein. »Sind Sie bisher von niemandem unterrichtet worden? Sie befinden sich hier in der Zentrale von Rex. Unsere Firma ist heute so bekannt wie es Flyier-Thiess zu Ihrer Zeit gewesen ist.«
»Wer ist Flyier-Thiess?«
»Nein? Dann vielleicht Ford?«
»Ford, ja. Die Rex Corporation ist also bekannt wie Ford. Was macht sie denn?«
»Sie stellt Rex-Antriebssysteme her«, sagte sie ihm. »Die dazu verwendet werden, Raumschiffe anzutreiben, Reinkarnationsmaschinen, Jenseitsfahrzeuge und so weiter. Es war mit einem Rex-Antriebssystem, daß man Sie sofort nach Ihrem Tod aus dem Wagen gerissen und in die Zukunft gebracht hat.«
»Zeitreisen«, sagte Blaine. »Aber wie funktioniert sowas?«
»Das ist schwer zu erklären«, erklärte sie. »Sie haben nicht das wissenschaftliche Hintergrundwissen dafür. Aber ich will’s versuchen. Sie wissen, daß Raum und Zeit das gleiche sind, das eine ist nur ein Aspekt des anderen.«
»Ach ja?«
»Ja. Wie Masse und Energie. In Ihrem Zeitalter wußten die Wissenschaftler, daß man Masse und Energie vertauschen kann. Sie waren in der Lage, die Fissions-Fusions-Vorgänge der Sterne zu berechnen. Aber sie konnten diese Vorgänge nicht unmittelbar nachahmen, da sie dafür riesige Mengen Energie brauchten. Erst als sie das Wissen und die Energie hatten, konnten sie Atome spalten und verschmelzen, um neue zu schaffen.«
»Das weiß ich«, sagte Blaine. »Was ist mit den Zeitreisen?«
»Die sind nach einem ähnlichen Muster entwickelt worden«, sagte sie. »Wir wußten schon lange, daß Raum und Zeit nur zwei verschiedene Aspekte derselben Sache waren. Wir wußten, daß man entweder den Raum oder die Zeit mit einem Energieverfahren in Grundbausteine zerlegen und verwandeln konnte. Wir konnten die Zeitkrümmung am Rand einer Supernova messen, und wir konnten beobachten, wie ein Stern vom Typ Wolf-Rayet verschwand, wenn sich seine Zeitkonversionsgeschwindigkeit beschleunigte. Aber wir mußten erst noch einiges mehr entdecken. Und wir brauchten eine Energiequelle, die um ganze Exponentialfunktionen größer war als die, mit der Ihnen die Kernfusion ermöglicht wurde. Als wir das alles zur Verfügung hatten, konnten wir Zeiteinheiten gegen Raumeinheiten austauschen – das heißt also, Zeitentfernungen gegen Raumentfernungen. Wir konnten dann, sagen wir, hundert Jahre in der Zeit reisen anstatt die vergleichbare Strecke von hundert Parseks.«
»Ich verstehe, jedenfalls ein wenig«, sagte Blaine. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, es mir noch einmal ganz langsam zu erklären?«
»Später, später«, sagte sie. »Würden Sie bitte die Verzichtserklärung unterzeichnen?«
Das Formular besagte, daß er, Thomas Blaine, darauf verzichtete, die Rex Corporation wegen ihrer unbefugten Rettung seines Lebens im Jahre 1958 und wegen des Transports in einen Empfängerkörper im Jahre 2110 zu verklagen.
Blaine unterschrieb. »Und jetzt«, sagte er, »würde ich gerne einmal wissen -«
Er hörte auf zu sprechen. Ein Teenager war mit einem großen Poster ins Zimmer eingetreten. »Entschuldigen Sie, Miss Thorne«, sagte er, »aber die Grafikabteilung möchte wissen, ob das so in Ordnung ist.« Der Junge hielt das Plakat hoch. Es zeigte einen Autounfall im Augenblick des Zusammenstoßes. Aus dem Himmel langte eine gigantische stilisierte Hand hinab und zog den Fahrer aus dem brennenden Wrack. Der Text dazu lautete: REX MACHT’S MÖGLICH!
»Nicht schlecht«, meinte Marie Thorne. »Oh, Mrs. Vaness? Was halten Sie von diesem Poster?«
Es waren nun ein Dutzend Leute in seinem Zimmer, und es strömten immer noch mehr herein. Sie stellten sich um Marie Thorne und ignorierten Blaine völlig. Ein Mann, der sich angeregt mit einer grauhaarigen Frau unterhielt, setzte sich auf seine Bettkante. Da riß Blaines Geduldsfaden.