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Abrupt gewann sie ihre Selbstbeherrschung wieder.

»Was Sie angeht, Blaine, so werden wir Sie hier wohl nicht länger brauchen. Sie haben Ihr Leben und einen adäquaten Körper, in dem Sie es leben können. Ich vermute, daß Sie jetzt wohl jederzeit gehen können, wenn Sie möchten.«

»Danke«, sagte Blaine, während sie aus dem Zimmer schritt.

*

In seine braunen Hosen und sein blaues Hemd gekleidet verließ Blaine die Station und schritt einen langen Korridor entlang, bis er an eine Tür kam. Neben der Tür stand ein uniformierter Wächter.

»Entschuldigen Sie«, sagte Blaine, »führt diese Tür hier nach draußen?«

»Häh?«

»Führt diese Tür aus dem Rex-Gebäude hinaus?«

»Ja, natürlich. Nach draußen und auf die Straße.«

»Danke.« Blaine zögerte. Er wünschte sich die Einweisung, die ihm versprochen worden war, die er jedoch nie erhalten hatte. Er wollte den Wächter fragen, wie New York jetzt war, was man für Sitten hatte und was für Bestimmungen, was er sich ansehen und um was er einen Bogen machen sollte. Aber der Wächter hatte offenbar noch nicht von dem ›Mann aus der Vergangenheit‹ gehört. Er blickte Blaine mit Stielaugen an.

Blaine mochte den Gedanken daran, so ohne Geld und Wissen und Freunde hinaus ins New York des Jahres 2110 zu treten, überhaupt nicht, ohne einen Job und eine Bleibe und in einen unbequemen neuen Körper gezwängt. Aber da ließ sich wohl nichts machen. Schließlich hatte der Stolz auch seinen Wert. Er würde sich lieber auf eigene Faust auf seinen Weg machen, als die porzellanharte Miss Thorne um Hilfe zu bitten oder sonst jemanden von Rex.

»Brauche ich einen Paß, um nach draußen zu können?« fragte er hoffnungsfroh.

»Nö. Nur um wieder reinzukommen.« Der Wächter blickte ihn mißtrauisch an. »Sagen Sie mal, was ist denn mit Ihnen los?«

»Nichts«, sagte Blaine. Er öffnete die Tür und konnte es immer noch nicht glauben, daß man ihn so ohne weiteres laufenlassen würde. Aber warum eigentlich nicht? Er befand sich in einer Welt, in der sich Leute mit ihren toten Großvätern unterhielten, wo es Raumschiffe und Jenseitsfahrzeuge gab, wo man einen Menschen aus der Vergangenheit hervorzerrte für einen Werbegag, den man dann einfach fallen ließ, wenn es dem toten Opa nicht paßte.

Die Tür ging zu. Hinter ihm befand sich die große graue Masse des Rex-Gebäudes. Vor ihm lag New York.

V

Auf den ersten Blick sah die Stadt aus wie ein surrealistisches Bagdad. Er sah quadratische Paläste aus weißen und blauen Kacheln, schlanke rote Minarette und unregelmäßige Gebäude mit flammenden chinesischen Dächern und gedrechselten Zwiebeltürmen. Es sah so aus, als habe sich eine Mode orientalischer Architektur über die ganze Stadt ausgebreitet. Blaine konnte kaum glauben, daß er in New York sein sollte. In Bombay vielleicht, in Moskau oder sogar Los Angeles, aber nicht in New York. Erleichtert nahm er Wolkenkratzer wahr, die sich, einfach und gerade, von den geschwungenen asiatischen Formen abhoben. Sie sahen aus wie die einsamen Wächter des New York, das er einmal gekannt hatte.

Die Straßen waren voller Miniaturfahrzeuge. Blaine erblickte Motorräder und -roller, Wagen, die nicht größer waren als Porsches, Laster von der Größe von Buicks und nichts, was größer gewesen wäre. Er fragte sich, ob dies wohl New Yorks Antwort auf Verkehrsstaus und Luftverschmutzung sein mochte. Wenn dies der Fall sein sollte, dann hatte sie jedenfalls nichts genützt.

Der größte Teil des Verkehrs lief oben ab. Es gab Propeller- und Düsenfahrzeuge, Luftlaster und Einmannflitzer, Helikoptertaxis und schwebende Busse, auf denen »Raumhafen, 2. Ebene« oder »Express nach Montauk« stand. Glitzernde Flecken markierten die senkrechten und waagerechten Bahnen, in denen sich der Verkehr bewegte, staute, abbog, hob und senkte. Blitzende rote, grüne, gelbe und blaue Lichter schienen den Verkehrsfluß zu regulieren. Es gab Regeln und Vorschriften, doch für Blaines ungeübtes Auge sah alles nach einem riesigen, hektischen Chaos aus.

Fünfzig Fuß über ihm befand sich eine weitere Einkaufsebene. Wie kamen die Leute dort hinauf? Und wenn man schon dabei war, wie konnte überhaupt jemand in dieser lärmenden, grellen, überfüllten Maschine leben, ohne verrückt zu werden? Die Menschendichte war überwältigend. Er hatte das Gefühl, in einem Fleischmeer zu ertrinken. Wie viele Einwohner lebten wohl in dieser Superstadt? Fünfzehn Millionen? Zwanzig Millionen? Sie ließ das New York von 1958 wie ein ländliches Dorf erscheinen. Er mußte stehenbleiben und seine Eindrücke sammeln. Aber die Gehsteige waren überfüllt, und wenn er langsamer wurde, schubsten ihn die Leute und fluchten. Weit und breit waren keine Parks und Bänke zu sehen.

Er bemerkte eine Gruppe von Leuten, die in einer Schlange standen und stellte sich hinten an. Langsam bewegte die Menschenschlange sich voran. Blaine schlurfte mit. Sein Kopf dröhnte, und er versuchte mühsam, normal zu atmen.

Einige Augenblicke später hatte er sich wieder in der Gewalt und empfand etwas mehr Respekt für seinen starken, phlegmatischen Körper. Vielleicht brauchte ein Mann aus der Vergangenheit genau solch einen Fleischumschlag, wenn er der Zukunft mit Gelassenheit begegnen wollte. Ein träges Nervensystem hatte auch seine Vorteile.

Still bewegte sich die Schlange vorwärts. Blaine stellte fest, daß die Männer und Frauen, die hier standen, ärmlich gekleidet, ungekämmt und ungewaschen waren. Sie alle sahen stumpf und verzweifelt aus.

Befand er sich an einer Essensausgabe?

Er klopfte dem Mann vor ihm auf die Schulter. »Entschuldigung«, sagte er, »wohin führt diese Schlange?«

Der Mann drehte seinen Kopf herum und starrte Blaine mit rotunterlaufenen Augen an. »Zu den Selbstmordkabinen«, sagte er und ruckte mit seinem Kinn in die Richtung des Anfangs der Schlange.

Blaine bedankte sich und trat schnellstens wieder aus der Schlange. Was für ein verdammt mieses Omen, um seinen ersten echten Tag in der Zukunft zu beginnen! Selbstmordkabinen! Na ja, jedenfalls würde er niemals freiwillig in eine gehen, da war er sich völlig sicher. So schlimm konnte es ja doch eigentlich wohl nicht werden.

Aber was war das für eine Welt, in der es Selbstmordkabinen gab? Und zwar kostenlose, wenn man sich die Kundschaft so ansah … Er würde vorsichtig damit sein müssen, was er an kostenlosen Geschenken in dieser Welt annahm.

*

Blaine schritt weiter und starrte alles an. Langsam gewöhnte er sich an die grelle, hektische, lärmende, überfüllte Stadt. Er kam an ein riesiges Gebäude, das wie eine gotische Burg gebaut war und von dessen Zinnen Wimpel flatterten. Auf seinem höchsten Turm befand sich ein helles grünes Licht, das vor der untergehenden, blasser werdenden Nachmittagssonne gut zu erkennen war.

Es sah wie ein bedeutendes Landschaftsmerkmal aus. Blaine starrte es an, dann sah er einen Mann, der gegen das Gebäude lehnte und sich eine dünne Zigarre anzündete. Er schien der einzige Mensch in New York zu sein, der nicht voller Eile dahinfetzte. Blaine ging auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie mich, Sir«, sagte er, »was ist das für ein Gebäude hier?«

»Das hier«, sagte der Mann, »ist die Zentrale der Unsterblichkeitsgesellschaft.« Es war ein großer, sehr dünner Mann mit einem langen, traurigen, vom Wetter gegerbten Gesicht. Seine Augen waren etwas geschlitzt und blickten einen geradeheraus an. Seine Kleidung hing unelegant an ihm herunter als wäre er es eher gewohnt, Jeans zu tragen als maßgeschneiderte Hosen. Blaine dachte, daß er wie ein Mann aus den Weststaaten aussah.

»Beeindruckend«, sagte Blaine und blickte an der gotischen Burg hoch.

»Protzig«, meinte der Mann. »Sie sind wohl nicht aus der Stadt, wie?«

Blaine schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Aber ehrlich gesagt, Fremder, ich hätte gedacht, daß jeder auf der Erde und auf allen Planeten das Jenseits-Gebäude, wie es auch heißt, kennen würde. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie frage, woher Sie kommen?«

»Aber nein«, sagte Blaine. Er fragte sich, ob er sich als Mann aus der Vergangenheit vorstellen sollte. Nein, das war wohl kaum etwas, was man einem völlig fremden Menschen sagen konnte. Der Mann konnte ein Bulle sein. Es wäre wohl besser, wenn er von anderswo käme.

»Sehen Sie«, sagte Blaine, »ich bin nämlich aus – Brasilien.«

»Ach ja?«

»Ja, aus dem Oberen Amazonasgebiet. Meine Eltern sind dort hingegangen, als ich noch ein Kind war. Gummiplantage. Paps ist gerade gestorben, da dachte ich mir, daß ich mir vielleicht mal New York anschauen könnte.«

»Hab gehört, daß es da unten noch ziemlich wild sein soll«, erwiderte der Mann.

Blaine nickte. Er war erleichtert, daß man seine Geschichte nicht anzweifelte. Aber vielleicht war es gar keine so ungewöhnliche Geschichte in dieser Zeit. Auf jeden Fall hatte er jetzt ein Zuhause.

»Ich komme aus Mexican Hat, Arizona«, sagte der Mann. »Orc heiße ich, Carl Orc. Blaine? Nett, Sie kennenzulernen, Blaine. Wissen Sie, ich bin hierher gekommen, um mir mal dieses New York anzusehen und um mal nachzuprüfen, weshalb die immer damit so angeben. Es ist ja schon ganz interessant, aber wenn Sie mich fragen, sind die Leute hier für meinen Geschmack ein bißchen zu hektisch und laut, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich will ja gar nicht behaupten, daß wir zu Hause immer stocksteif und stumm rumsitzen würden, tun wir gar nicht. Aber diese Leute hier zappeln rum wie die Affen auf dem Schleifstein.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, bestätigte Blaine.

Eine Weile lang sprachen sie über das zappelige, frenetische, zwangsneurotische Wesen der New Yorker und verglichen es mit dem gesunden, ländlichen Leben in Mexican Hat und am Oberen Amazonas. Diese Leute hier, darüber waren sie sich sofort einig, wußten nicht, was Leben heißt.

»Blaine«, sagte Orc, »ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe. Wie wär’s mit einem Drink?«

»Prima«, meinte Blaine. Ein Mann wie Carl Orc konnte ihm vielleicht dabei behilflich sein, sich von seinen dringendsten Schwierigkeiten zu befreien. Vielleicht konnte er einen Job in Mexican Hat bekommen. Er konnte sich auf Brasilien und auf Gedächtnisschwund berufen, um sein Unwissen über das heutige Leben zu erklären.

Dann fiel ihm ein, daß er kein Geld besaß.

Er fing an, eine Erklärung hervorzustammeln, wie er versehentlich seine Brieftasche im Hotel vergessen hätte. Doch Orc schnitt ihm sofort das Wort ab.

»Hören Sie, Blaine«, sagte er und fixierte ihn mit seinen enggeschlitzten blauen Augen, »ich will Ihnen was sagen. Die meisten Leute würden Ihnen eine solche Story nicht unbedingt abkaufen. Aber ich meine, daß ich ein ganz passabler Menschenkenner bin. Hab mich nicht oft geirrt, muß ich sagen. Ich bin nicht gerade das, was man einen armen Mann nennen würde, also wie wär’s, wenn wir den Abend auf meine Rechnung gehen lassen?«

»Wirklich«, sagte Blaine, »das kann ich doch nicht -«

»Kein Wort mehr davon!« sagte Orc entschieden. »Wenn Sie darauf bestehen, dann kann der morgige Abend von mir aus auf Sie gehen. Aber machen wir uns jetzt endlich auf den Weg, die Nachtbewegungen der Innereien dieses nervösen alten Städtchens zu studieren!«

Blaine kam zu dem Schluß, daß diese Methode, etwas über die Zukunft herauszufinden, auch nicht besser oder schlechter war als jede andere. Schließlich war nichts entlarvender als die Art und Weise, wie Leute ihre Freizeit verbrachten. Durch Spiele und Trunkenheit offenbarte der Mensch seine Grundeinstellung zu seiner Umwelt und zeigte, wie er zu den Problemen des Lebens, des Todes, des Schicksals und des freien Willens stand. Was wäre ein besseres Symbol Roms gewesen als der Circus? Wie hätte man den amerikanischen Westen besser charakterisieren können als durch das Rodeo? Spanien hatte seinen Stierkampf und Norwegen seinen Ski-Weitsprung. Welcher Sport, welcher Freizeitspaß würde auf ähnliche Weise das New York des Jahres 2110 offenbaren? Er würde es schon feststellen. Und es war sicherlich besser, dies alles direkt kennenzulernen, als darüber in irgendeiner verstaubten Bibliothek zu lesen. Und mehr Spaß würde es mit Sicherheit auch machen, viel mehr Spaß.

»Wie wär’s, wenn wir uns mal das Marsianerviertel anschauen würden?« fragte Orc.

»Nur zu«, sagte Blaine, der erfreut darüber war, daß er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte.