Es war übrigens ein Gesicht, das Festigkeit, Energie und Trauer erkennen ließ. Eine seltsame Mischung aus Demut und Strenge. Die Augen leuchteten unter den Brauen wie Feuer im Gestrüpp.
Unter den Gästen befand sich ein Fischhändler, der eben durch die Straßentür eingetreten war, nachdem er sein Pferd bei Labarre im Stall untergebracht hatte. Dieser Mann winkte den Wirt zu sich. Die beiden wechselten flüsternd einige Worte, während der Fremde versonnen am Feuer saß.
Jetzt trat der Wirt wieder an den Kamin, legte dem Fremden brüsk die Hand auf die Schulter und sagte:
»Mach, daß du fortkommst!«
Der Fremde wandte sich um und fragte ruhig:
»Ach, Sie wissen …?«
»Ja!«
»Man hat mich aus der anderen Herberge fortgejagt.«
»Und man jagt dich auch aus dieser fort.«
»Und wohin soll ich gehen?«
»Sonstwohin.«
Der Fremde nahm seinen Stock und seinen Tornister und ging.
Als er auf die Straße trat, wurde er von einigen Kindern empfangen, die ihm von der Croix-de-Colbas nachgelaufen waren und Steine nach ihm warfen. Er wandte sich um und drohte ihnen mit dem Stock. Wie aufgescheuchte Vögel stoben sie auseinander.
Er kam an dem Gefängnis vorbei. An der Tür hing eine eiserne Kette, an der die Glocke befestigt war. Er schellte.
Als der Schließer öffnete, bat er mit demütig gezogener Kappe:
»Herr Schließer, wollen Sie mir nicht öffnen und für diese Nacht Unterkunft geben?«
»Ein Gefängnis ist keine Herberge«, antwortete die Stimme. »Machen Sie, daß Sie arretiert werden, dann lasse ich Sie herein.«
Das Schiebefenster wurde geschlossen.
Es wurde dunkel. Kalter Gebirgswind wehte. Im Schein des verlöschenden Tages bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die an die Straße stoßen, eine Hütte, die mit Rasenstücken belegt war. Kurz entschlossen sprang er über den Zaun und drang in den Garten ein. Er näherte sich der Hütte. Sie hatte einen sehr niedrigen Eingang und war jenen Hütten nicht unähnlich, die Straßenarbeiter im Chausseegraben zu bauen pflegen. Er dachte wohl, das wäre ein Unterschlupf für einen Arbeiter. Ihn fror, und er hungerte. Den Hunger wollte er ertragen, und hier würde er wenigstens Schutz gegen die Kälte finden. Solche Hütten sind zumeist des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich auf den Boden und kroch hinein. Es war warm darin, auch fand er eine gute Schütte Stroh vor. Einen Augenblick blieb er ausgestreckt liegen, ohne sich zu rühren, so müde war er. Da aber sein Tornister ihn störte, wohl auch ein ganz gutes Kissen abgeben mochte, machte er sich daran, ihn abzunehmen. In diesem Augenblick war ein grimmiges Knurren zu hören. Er blickte auf. Der Kopf einer gewaltigen Dogge erschien im Eingang.
Es war eine Hundehütte, in die er geraten war.
Aber er war stark und furchtlos. Mit seinem Stock als Waffe und seinem Tornister als Schild bewehrt, kroch er aus der Hütte so gut er konnte, wobei er allerdings seine Lumpen noch ärger zerriß.
Auch aus dem Garten entkam er, rückwärts schreitend und die Dogge in Schach haltend mit einem Manöver, das die Stockfechter »die geschlossene Rose« nennen.
Als er nicht ohne Mühe den Zaun überstiegen und die Straße wieder erreicht hatte, sah er sich von neuem allein, ohne Dach, ohne Lager, sogar aus der Hundehütte mit einer Schütte Stroh verjagt; er ließ sich auf einen Stein fallen, und ein Vorübergehender hörte ihn aufstöhnen:
»Nicht einmal soviel wie ein Hund!«
Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, kam an der Präfektur und dem Seminar vorbei. Als er den Domplatz überquerte, ballte er die Faust. Erschöpft und jeder Hoffnung bar, streckte er sich auf einer Steinbank aus.
In diesem Augenblick kam eine alte Frau vorüber, die eben die Kirche verlassen hatte. Sie bemerkte den Mann im Schatten.
»Was tut Ihr da, guter Freund?« fragte sie.
»Das sehen Sie wohl, gute Frau, ich lege mich schlafen«, antwortete er hart und zornig.
Diese gute Frau verdiente die Bezeichnung wirklich. Es war die Marquise de R.
»Auf dieser Bank?« fragte sie.
»Neunzehn Jahre habe ich auf Holzpritschen gelegen«, sagte der Mann, »heute bleibt mir nur Stein übrig.«
»Sie waren wohl Soldat?«
»Ja, gute Frau, Soldat.«
»Warum gehen Sie nicht in die Herberge?«
»Weil ich kein Geld habe.«
»Aber Sie können doch nicht im Freien schlafen? Gewiß haben Sie Hunger und frieren. Man wird Sie aus Mitleid aufnehmen.«
»Ich habe an alle Türen geklopft.«
»Und?«
»Überall hat man mich fortgejagt.«
Sie berührte ihn am Arm und deutete auf ein kleines, niedriges Haus neben dem bischöflichen Palais.
»Überall haben Sie angeklopft?«
»Ja.«
»Waren Sie auch dort?«
»Nein.«
»Dann gehen Sie dahin.«
Vorsicht und Weisheit
An diesem Abend war der Bischof von Digne nach seinem Spaziergange in der Stadt lange in sein Zimmer eingeschlossen geblieben. Er arbeitete fleißig, noch als es acht Uhr schlug, hatte ein großes, aufgeschlagenes Buch auf den Knien liegen und machte auf kleinen Zetteln Notizen, als Frau Magloire eintrat, um wie gewöhnlich das Silbergeschirr aus dem Wandschrank neben dem Bett zu holen. Als der Bischof einen Augenblick später merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht schon wartete, schloß er sein Buch, stand auf und trat in den Speisesaal.
Es war ein rechteckiger Raum mit einem Kamin, einer Tür, die geradewegs auf die Straße führte, und einem Fenster in den Garten hinaus.
Frau Magloire hatte in der Tat schon gedeckt. Sie plauderte jetzt mit Fräulein Baptistine. Auf dem Tisch, der an den Kamin gerückt war, stand eine Lampe, und im Kamin brannte ein Feuer. Als der Bischof eintrat, erörterte sie gerade lebhaft ihr Lieblingsthema, das auch Monsignore Bienvenu nicht mehr unbekannt war. Es handelte sich um die Klinke der Straßentür.
Als sie für das Abendbrot einholen gegangen war, hatte Frau Magloire an verschiedenen Orten schlimme Nachrichten erhalten. Von einem übelaussehenden Strolch war die Rede gewesen, einem verdächtigen Landstreicher, der sich in der Stadt herumtrieb; und wer heute nacht lange ausblieb, konnte sich auf eine unangenehme Begegnung gefaßt machen. Die Polizei, war gesagt worden, sei doch recht leichtfertig, offenbar, weil der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister nicht gerade gut aufeinander zu sprechen waren und jeder dem andern zu schaden hoffte, wenn irgend etwas vorfiel. Darum war es für vorsichtige Leute am besten, selber für ihre Sicherheit zu sorgen, und da sei es die erste Pflicht, sein Haus anständig zu verschließen, zu verriegeln und zu versperren, kurz, seine Türen gut zu verwahren.
Frau Magloire legte eine gewisse Betonung auf das Wort Türen, aber der Bischof hatte in seinem Zimmer gefroren, und darum richtete er sich jetzt am Kamin häuslich ein; seine Gedanken hatten eine andere Richtung genommen. Darum achtete er der Bemerkung nicht sonderlich, die Frau Magloire gemacht hatte, sie mußte sie wiederholen. Fräulein Baptistine wollte ihr einen Gefallen tun, zugleich aber ihrem Bruder nicht mißfallen, und darum äußerte sie schüchtern:
»Bruder, hast du gehört, was Frau Magloire sagt?«
»Mir ist so, als ob ich etwas gehört hätte«, antwortete der Bischof. Er wandte sich in seinem Stuhl halb um, legte die Hände auf seine Knie und richtete seinen heiteren, vergnügten Blick auf die alte Haushälterin: »Nun, was gibt’s? Schweben wir in großer Gefahr?«
Jetzt begann Frau Magloire von neuem, wobei sie, wohl ohne es selbst recht zu bemerken, ein wenig stärker auftrug. Kurz und gut, ein barfüßiger Bandit, ein gefährlicher Räuber oder so etwas Ähnliches trieb sich dem Vernehmen nach in der Stadt herum. Zuerst habe er bei Jacquin Labarre um Quartier nachgesucht, aber dort hatte man ihn nicht aufnehmen wollen. Später war er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und habe sich auch in anderen Straßen gezeigt. Ein Kerl, reif für den Galgen, mit einem Gesicht – so recht zum Angstkriegen.