»Wahrhaftig?« meinte der Bischof. Diese Bereitwilligkeit, sie anzuhören, ermutigte Frau Magloire. Vielleicht war der Bischof doch auch beunruhigt. Triumphierend fuhr sie fort:
»Ja, so ist es. Heute nacht gibt es gewiß ein Unglück in der Stadt. Alle Welt sagt das. Und dabei ist die Polizei so nachlässig« (eine nützliche Wiederholung!). »Man lebt in gebirgigem Land, und nicht einmal Laternen brennen des Nachts in den Straßen! Da soll man sich hinaustrauen. Stockfinster ist es draußen. Darum sage ich, Monsignore, und das Fräulein meint wie ich …«
»Ich meine gar nichts«, unterbrach die Schwester, »was mein Bruder entscheidet, wird gut sein.«
Frau Magloire fuhr fort, ohne diesen Einspruch zu beachten.
»Wir sagen also, daß dieses Haus gar nicht sicher ist, und wenn Monsignore erlauben, so gehe ich sofort zu Paulin Musebois, dem Schlosser, damit er die alten Riegel wieder an der Türe anbringt. Sie sind noch zur Hand, das Ganze ist in einer Minute gemacht. Wir müssen die Riegel haben, Monsignore, und wäre es nur für heute nacht, denn eine Tür, die jeder von außen mit der Klinke aufdrücken kann, der erste beste, der vorbeikommt, ist das Schrecklichste von der Welt, noch dazu, wenn man bedenkt, daß Monsignore die Gewohnheit haben, immer gleich ›herein‹ zu rufen. Und um Mitternacht, großer Gott, braucht keiner erst um Erlaubnis zu fragen …«
In diesem Augenblick wurde kräftig an die Türe geklopft.
»Herein!« rief der Bischof.
Heroischer Gehorsam
Die Tür ging auf.
Heftig wurde sie aufgerissen – ein Mann trat ein.
Wir kennen diesen Mann. Es ist derselbe, den wir eine Stunde vorher auf der Suche nach einem Obdach gesehen haben.
Er tat einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen, ohne die Tür hinter sich wieder zu verschließen. Den Tornister hatte er auf dem Rücken, den Stock in der Hand; in seinem Blick war etwas Rauhes, Kühnes, Erschreckliches. Licht vom Kaminfeuer fiel ihm grell ins Gesicht. Er sah unheimlich aus.
Frau Magloire brachte nicht einmal die Kraft auf, einen Schrei auszustoßen. Sie zitterte und blieb mit offenem Munde stehen. Fräulein Baptistine wandte sich um, warf einen Blick auf den Fremden, zuckte erschrocken zusammen, sah aber sofort nach ihrem Bruder, dessen Gesicht tiefe Ruhe und Heiterkeit ausstrahlte.
Gelassen betrachtete der Bischof den Fremden. Als er den Mund auftat, um den Ankömmling zu fragen, was er wünsche, stützte dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ den Blick hastig über den Greis und die beiden Frauen hingleiten und sagte dann laut, ohne eine Anrede abzuwarten:
»So ist es, ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein Galeerensträfling. Neunzehn Jahre war ich im Bagno. Vor vier Tagen hat man mich in Freiheit gesetzt, und jetzt gehe ich nach Pontarlier, das ist mein Bestimmungsort. Schon vier Tage bin ich unterwegs, von Toulon aus. Heute bin ich zwölf Meilen zu Fuß gelaufen. Als ich heute abend hier ankam, war ich in einer Herberge, aber man hat mich weggejagt, weil ich den gelben Paß habe; den mußte ich im Stadthaus vorzeigen. So ist die Vorschrift. Dann war ich in einer anderen Herberge. Da haben sie gesagt: pack dich! Beim einen so, beim anderen so, keiner will mich. Ich war vor dem Gefängnis, der Schließer wollte mich nicht hereinlassen. Auch in einer Hundehütte. Der Hund hat mich gebissen und verscheucht, als wäre er ein Mensch. Als ob er wüßte, wer ich bin. Hier auf dem Platz wollte ich mich auf eine Steinbank legen, da kam eine Frau, zeigte mir Ihr Haus und sagte: Klopfen Sie da an. Ich habe es getan. Was ist das für ein Haus hier? Eine Herberge? Ich habe Geld, hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Die habe ich in neunzehn Jahren, im Bagno, verdient. Ich will bezahlen. Was liegt mir daran, ich habe ja Geld. Sehr müde bin ich, zwölf Meilen zu Fuß –! Und sehr hungrig. Soll ich bleiben?«
»Noch ein Gedeck, Frau Magloire!« sagte der Bischof.
Der Mann trat drei Schritte vor, bis an die Lampe heran, die auf dem Tisch stand.
»Hören Sie«, sagte er, »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden. Ich bin ein Galeerensträfling. Zwangsarbeit. Ich komme von den Galeeren.« Er zog ein gelbes Blatt Papier aus der Tasche. »Das da ist mein Paß. Ein gelber, wie Sie sehen. Das dient dazu, daß ich überall fortgejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen, Herr, ich habe es im Bagno gelernt. Das ist eine feine Schule für die, die lernen wollen. Sehen Sie doch, was da steht: Jean Valjean, entlassener Sträfling, geboren zu … Nun, das ist ja egal, Sie kümmert das nicht … Also: war neunzehn Jahre im Bagno. Fünf Jahre wegen Einbruchsdiebstahl, vierzehn Jahre wegen versuchten Ausbruchs. Sehr gefährlich! Da steht es. Jedermann wirft mich heraus. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das eine Herberge? Wollen Sie mir zu essen und Unterkunft geben? Haben Sie einen Stall?«
»Frau Magloire«, sagte der Bischof, »überziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«
Frau Magloire ging hinaus, um zu tun, was ihr befohlen worden war.
Der Bischof wandte sich an den Fremden:
»Setzen Sie sich, mein Herr, und wärmen Sie sich. Wir werden gleich essen, und man wird inzwischen Ihr Bett bereiten.«
Jetzt begriff der Mann erst ganz. Sein Gesicht, das bisher hart und finster gewesen war, verriet Verblüffung, Zweifel und Freude. Er stammelte wie ein Irrer.
»Wahrhaftig, Sie wollen mich hierbehalten? Sie werfen mich nicht heraus? Mich, einen Sträfling, nennen Sie Herr? Sie duzen mich nicht? Ich war fest überzeugt, daß Sie mich fortschicken würden. Darum habe ich gleich gesagt, wer ich bin. Das war eine gute Frau, die mich hierhergeschickt hat. Und essen werde ich auch! Und ein Bett haben mit Matratze und Laken! Ein Bett … neunzehn Jahre lang habe ich nicht in einem Bett gelegen! Sie sind gute Leute. Ich habe ja Geld, ich werde Sie schon bezahlen. Verzeihung, Herr Wirt, wie heißen Sie? Ich werde alles bezahlen, soviel es ausmacht. Sie sind doch Wirt, nicht wahr?«
»Ich bin ein Priester aus diesem Ort«, sagte der Bischof.
»Ein Priester … ein wackerer Priester! Dann wollen Sie wohl gar kein Geld? Sie sind Pfarrer? Pfarrer von der großen Kirche da? Ach, wahrhaftig, ich bin blöde, habe gar nicht bemerkt, daß Sie das Käppchen tragen.«
Inzwischen hatte er seinen Tornister abgelegt, den Stock in die Ecke gestellt, seinen Paß eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistines Blick ruhte sanft auf ihm. Er fuhr fort:
»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie verachten mich nicht. Das tut wohl – einmal ein guter Priester. Sie brauchen wohl auch kein Geld?«
»Nein«, erwiderte der Bischof, »behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie übrigens? Sagten Sie nicht, es wären hundertneun Franken?«
»Und fünfzehn Sous.«
»Hundertneun Franken und fünfzehn Sous! Wie lange brauchten Sie, um das zu verdienen?«
»Neunzehn Jahre.«
Der Bischof seufzte tief.
»Ich habe noch alles«, fuhr der Fremde fort. »Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient, beim Wagenladen. Da Sie Abbé sind, muß ich Ihnen sagen, daß wir im Bagno einen Almosenier hatten. Auch einen Bischof sah ich eines Tages, so einen, der Monsignore angeredet wird. Das war der Bischof von Ste. Marie-Majore in Marseille. Das ist der Pfarrer, dem die andern Pfarrer gehorchen müssen. Sie müssen mich entschuldigen, ich sage das nicht geschickt, aber unsereiner versteht es nicht besser. Sie werden mich schon verstehen. Er hat im Bagno die Messe gelesen, und auf dem Kopfe hatte er einen spitzen Hut aus Gold. Es war am hellichten Mittag, alles an ihm glitzerte. Wir standen ringsum in Reihen, vor uns hatte man Kanonen aufgestellt, mit brennender Lunte. Wir sahen nicht sehr viel; er hat auch gepredigt, aber er stand weitab, man hörte nicht viel. Das ist ein Bischof, verstehen Sie.«