Er kam nach Toulon nach einer Reise von siebenundzwanzig Tagen, die er, die Kette am Halse, auf einem Karren zurückgelegt hatte. In Toulon zogen sie ihm die rote Jacke an, und hier wurde sein ganzes früheres Leben ausgelöscht, ja sogar auch sein Name, denn er war jetzt nicht mehr Jean Valjean, sondern Nummer 24 601. Was wurde aus seiner Schwester? Was aus den sieben Kindern? Wer kümmert sich darum? Was wird aus ein paar Blättern des Baumes, an dessen Fuß die Säge gesetzt worden ist?
Es ist immer die gleiche Geschichte. Diese beklagenswerten Geschöpfe, die nunmehr ohne Stütze und ohne Führer waren, wurden auseinandergetrieben vom Zufall, vielleicht jeder woandershin. Sie verließen die Heimat. Der Kirchturm des Ortes, der ihre Heimat gewesen war, vergaß sie; ihr Acker vergaß sie; schließlich vergaß auch Jean Valjean sie, nachdem er einige Jahre im Bagno zugebracht hatte. In seinem Herzen war an Stelle der Wunde die Narbe getreten, das war es. Kaum ein einziges Mal hörte er von seiner Schwester. Das geschah, glaube ich, gegen Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Wie diese Nachricht zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Irgendwer, der sie in der Heimat gekannt hatte, war wohl der Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße nahe der Kirche Saint Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur mehr ein Kind bei sich, einen Jungen, wohl den jüngsten. Wo waren die sechs anderen? Vielleicht wußte sie es selbst nicht. Jeden Morgen ging sie in die Druckerei in der Rue du Sabot Numéro 3, wo sie als Falzerin arbeitete. Sie mußte um sechs Uhr morgens dort sein, also zur Winterszeit lange vor Tagesanbruch. Im Hause der Druckerei gab es auch eine Schule, dorthin brachte sie den kleinen Jungen, der sieben Jahre alt war. Da sie aber um sechs Uhr in der Druckerei sein mußte, während die Schule erst um sieben geöffnet wurde, mußte das Kind eine Stunde im Hof warten; im Winter eine Nachtstunde im Freien. In die Druckerei ließ man das Kind nicht, weil es dort, wie man sagte, störte. Wenn die Arbeiter morgens in ihre Werkstätten kamen, sahen sie den armen Kleinen auf dem Pflaster hocken, schlaftrunken, oft sogar im Dunkel eingenickt, zusammengekauert und über seinen Korb gebeugt. Wenn es regnete, erbarmte sich die Frau des Hauswarts seiner und ließ ihn in ihre Loge eintreten, in der es ein schmales Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle gab; der Kleine schlummerte dort in einem Winkel und schmiegte sich an die Katze, um es wärmer zu haben. Um sieben öffnete die Schule ihre Tore, dann trat er ein. Das war alles, was man Jean Valjean sagen konnte.
Gegen Ende des vierten Jahres kam die Reihe an Jean Valjean, auszubrechen. Seine Kameraden halfen ihm, wie das an jenem traurigen Ort üblich ist. Er entkam. Zwei Tage lang irrte er frei umher – sofern man gehetzt zu werden, jeden Augenblick zurückzuschauen, beim leisesten Geräusch zu erschrecken, sich vor allem zu fürchten, einem rauchenden Schornstein, einem vorübergehenden Menschen, einem bellenden Hund, einem galoppierenden Pferd, einer Uhr, die schlägt … sofern man dies Freiheit nennen will. Am Abend des zweiten Tages wurde er wieder gefangen. Seit sechsunddreißig Stunden hatte er weder gegessen noch geschlafen. Das Seegericht verurteilte ihn wegen dieses Verbrechens zu einer Verlängerung seiner Strafe um drei Jahre, so daß er insgesamt acht Jahre zu verbüßen hatte.
Im sechsten Jahre war die Reihe wieder an ihm; aber es gelang ihm nicht einmal, aus dem Gefängnis zu kommen. Beim Appell hatte er gefehlt. Die Kanone gab den üblichen Signalschuß, und nachts fanden ihn die Leute der Runde unter dem Kiel eines im Bau befindlichen Schiffes; er leistete Widerstand, wurde aber überwältigt. Das war Flucht und Widersetzlichkeit. Den Bestimmungen des Strafgesetzes gemäß bekam er diesmal fünf Jahre, davon zwei in Doppelketten. Macht zusammen dreizehn Jahre. Als er im zehnten Jahre wieder an die Reihe kam, nahm er die Gelegenheit wahr, aber auch diesmal war ihm das Glück nicht hold. Drei Jahre für diesen neuerlichen Versuch. Insgesamt sechzehn Jahre. Schließlich, im dreizehnten Jahr, als er einen letzten Versuch wagte und nach vier Stunden wieder gefaßt wurde, weitere drei Jahre. Drei Jahre für vier Stunden. Alles in allem neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er freigelassen. Gefangengesetzt worden war er im Jahre 1796, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.
Neue Qualen
Als die Stunde seiner Befreiung schlug, als dieses seltsame Wort: »Du bist frei« an sein Ohr drang, schien ihm der Augenblick unerhört und unwahrscheinlich, und ein Strahl lebendigen Lichts fiel in seine Seele.
Aber er sollte bald verblassen. Jean Valjean war von dem Gedanken der Freiheit berauscht gewesen. Nun beginne das neue Leben, hatte er gedacht. Aber nur zu bald erfuhr er, welche Freiheit das ist, der man einen gelben Paß gibt.
Bitterkeit. Er hatte berechnet, daß er während seiner Gefangenschaft im Bagno hunderteinundsiebzig Franken verdient haben müsse. Allerdings hatte er in dieser Rechnung die erzwungene Muße der Sonntage und Feiertage vergessen, die, auf neunzehn Jahre verrechnet, einen Verlust von vierundzwanzig Franken ergaben. Wie dem aber auch sei, durch verschiedene Abzüge blieben zu guter Letzt nur hundertneun Franken und fünfzehn Sous übrig, die ihm bei seiner Entlassung ausbezahlt wurden. Er begriff das nicht, er glaubte sich geschädigt oder, wenn wir das Wort nicht scheuen wollen, bestohlen.
Am Tag nach seiner Entlassung sah er in Grasse vor dem Tor einer Destillation Männer, die Warenballen verluden. Er bot seine Dienste an. Da die Arbeit eilig war, nahm man sie an. Er machte sich ans Werk. Er war gescheit, kräftig und geschickt. Er tat sein Bestes, und sein Dienstgeber schien zufrieden. Während er arbeitete, kam ein Gendarm vorüber, bemerkte ihn und verlangte nach seinen Papieren. Er mußte den gelben Paß zeigen. Dann machte sich Jean Valjean wieder an die Arbeit. Kurz vorher hatte er einen Arbeiter gefragt, was sie mit solcher Arbeit wohl im Tage verdienten, und man hatte ihm gesagt: dreißig Sous. Als der Abend kam, ging er zu dem Herrn der Destillation und bat um seinen Lohn, da er am nächsten Morgen weiterwandern müßte. Der Herr sprach kein Wort, sondern händigte ihm fünfzehn Sous aus. Jean erhob Einspruch. Da wurde ihm gesagt: »Für dich ist das genug.« Er bestand auf seinem Recht, aber da sah ihn der Meister scharf an und sagte: »Vorsicht, daß du nicht wieder ins Loch kommst!«
Auch hier hatte man ihn offenbar bestohlen.
Die Gesellschaft, der Staat hatte ihn im großen geplündert, jetzt kamen die Feinde einzeln und bestahlen ihn. Entlassung ist nicht Befreiung. Man verläßt das Strafhaus, aber die Verurteilung kann man nicht loswerden.
So war es ihm in Grasse ergangen. Der Leser hat gesehen, wie er in Digne aufgenommen wurde.
Erwachen
Als die Kirchturmuhr die zweite Stunde anzeigte, erwachte Jean Valjean. Was ihn aus dem Schlaf aufjagte, war das gute Bett. Zwanzig Jahre hatte er nicht in einem Bett gelegen, und obwohl er sich nicht entkleidet hatte, war die Empfindung jetzt doch allzu neu, um nicht seinen Schlaf zu stören.