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Mehr als vier Stunden hatte er geschlafen. Die Müdigkeit war von ihm gewichen. Er war nicht gewohnt, lange zu schlafen.

Er schlug die Augen auf, blickte im Dunkel um sich, dann schloß er sie wieder, um von neuem einzuschlafen. Aber er konnte es nicht, und so begann er nachzudenken. Er befand sich in einer wirren Geistesverfassung. In seinem Gehirn war ein dunkles Hin und Her, alte Erinnerungen vermischten sich mit neuen, wuchsen jäh an und verschwanden wieder. Viele Gedanken kamen ihm, aber einer schob sich hartnäckig in den Vordergrund und verdrängte die andern. Wir wollen es unumwunden sagen, es war der Gedanke an die sechs Silbergedecke und den großen, silbernen Schöpflöffel, die Frau Magloire auf den Tisch gelegt hatte.

Das Silberzeug ließ ihm keine Ruhe. Es war da, nur einige Schritte entfernt. Als er das Zimmer nebenan durchschritten hatte, um hierher zu gelangen, wo er sich jetzt befand, hatte die alte Haushälterin es in den Wandschrank am Kopfende des Bettes gelegt. Jean hatte es wohl bemerkt. Es war, wenn man aus dem Speisesaal eintrat, rechter Hand. Massives Silber. Altes, gutes Silber. Mit dem schweren Schöpflöffel würde es gewiß zweihundert Franken erbringen. Das Doppelte der Summe, die er in neunzehn Jahren verdient hatte. Allerdings, er hätte ja mehr verdient, wenn ihn die Verwaltung nicht bestohlen hätte … Eine gute Stunde lang beschäftigte sich sein Geist mit diesen Dingen und kämpfte einen mühsamen Kampf. Es schlug drei. Wieder öffnete er die Augen, setzte sich auf, streckte den Arm aus, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke gelegt hatte, ließ die Beine herabhängen und blieb regungslos auf dem Bettrand sitzen. So verharrte er einige Zeit in tiefe Gedanken versunken; wenn ihn jemand so, einsam wachend, in diesem schlafenden Hause gesehen hätte, wäre er ein unheimliches Gefühl nicht losgeworden. Plötzlich bückte sich Jean, zog die Schuhe ab, stellte sie vorsichtig auf die Strohmatte neben dem Bett, nahm wieder seine nachdenkliche Haltung ein und versank in Reglosigkeit.

Ohne Unterlaß kehrten die gleichen Gedanken in sein Gehirn zurück; gleichzeitig mußte er, ohne recht zu begreifen warum, an einen Zwangsarbeiter namens Brevet denken, den er im Bagno gekannt hatte und dessen Hose nur durch ein einziges Tragband hochgehalten wurde; das Muster dieses Tragbands kam ihm immer wieder in den Sinn.

In dieser Stellung verharrte er, und vielleicht wäre er bis zu Tagesanbruch so verblieben, wenn nicht die Uhr wieder geschlagen hätte. Ihm schien, sie riefe ihm ein Vorwärts zu.

Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und lauschte. Alles im Hause war still. Nun ging er aufrecht und in kurzen Schritten zum Fenster. Die Nacht war nicht sonderlich dunkel. Der Vollmond schien, nur zuweilen von Wolken verdunkelt, die der Wind über den Himmel peitschte. Immerhin entstand durch dieses Widerspiel von Licht und Schatten eine Art Dämmerung, die genügte, um sich zurechtzufinden.

Das Fenster war nicht vergittert. Es führte in den Garten und war, wie das auf dem Lande Sitte ist, nur schwach verklinkt. Er öffnete es, aber da ihm ein kalter, scharfer Wind entgegenwehte, schloß er es sofort wieder. Aufmerksam sah er in den Garten hinaus. Eine weiße, ziemlich niedrige Mauer, die man leicht übersteigen konnte, umschloß ihn. Im Hintergrund waren jenseits der Mauern in regelmäßigen Abständen Baumkronen zu erkennen, woraus man entnehmen konnte, daß die Mauer den Garten von einer Allee oder mit Bäumen bepflanzten Straße trennte.

Jetzt machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in den Alkoven zurück, nahm den Tornister vor, öffnete und durchsuchte ihn, zog einen Gegenstand heraus, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine der Tornistertaschen, verschnallte alles wieder, lud den Sack auf die Schultern, setzte die Mütze auf, wobei er nicht vergaß, den Schirm tief über die Augen zu ziehen, suchte tastend nach seinem Stock und ergriff endlich den Gegenstand, den er eben erst auf das Bett gelegt hatte. Er glich einer kurzen, an einem Ende zugespitzten Eisenstange.

In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, wozu dieses Stück Eisen dienen mochte. War es ein Hebel, eine Keule? Im vollen Tageslicht hätte man erkannt, daß es ein Bergmannswerkzeug war. Man verwendete damals die Strafgefangenen auch dazu, in der Nähe von Toulon in den Steinbrüchen zu arbeiten, und so kam es, daß sie sich Bergmannswerkzeuge verschaffen konnten.

Er nahm das Eisen in die Rechte, hielt den Atem an, näherte sich leisen Schrittes der Tür des Nachbarzimmers, in dem, wie der Leser sich erinnert, der Bischof schlief, und fand sie halb angelehnt. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.

Die Tat

Jean Valjean lauschte. Nichts war zu hören.

Er stieß die Türe an. Mit der Fingerspitze tat er es, ganz leise und mit einer flüchtigen, ängstlichen Vorsicht, wie eine Katze, die in ein Zimmer schleichen will.

Die Tür gab nach und ließ geräuschlos einen Spalt frei.

Jean wartete einen Augenblick, dann stieß er sie ein zweites Mal an, kühner jetzt. Wieder gab sie lautlos nach. Der Spalt war jetzt breit genug, daß man durchschlüpfen konnte. Aber neben der Tür stand ein kleiner Tisch, der den Zugang versperrte. Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Öffnung mußte erweitert werden. Entschlossen stieß er ein drittes Mal zu, diesmal energischer als vorher. Eine schlecht geölte Angel kreischte auf. Es klang in der Dunkelheit wie ein rauher, langgezogener Schrei.

Jean Valjean zitterte.

Im ersten Augenblick, in dem der Schreck den Lärm phantastisch vergrößerte, bildete er sich fast ein, die Türangel sei ein lebendiges Wesen, nehme plötzlich ein furchtbares Dasein an, belle wie ein Hund, um alle Welt zu warnen und die Schlafenden zu wecken.

Verwirrt blieb er stehen und fiel auf die Fersen zurück. Er hörte das Blut in seinen Schläfen hämmern, hörte den Atem wie einen Orkan aus der Brust hervorbrechen. Ihm schien es unmöglich, daß das furchtbare Kreischen der Türangel nicht das ganze Haus erschüttert habe wie ein Erdbeben; die Türe hatte Alarm geschlagen, der Alte würde aufstehen, die beiden Frauen mußten ein Geschrei erheben, Fremde würden zu Hilfe kommen, in einer knappen Viertelstunde war die ganze Stadt in Aufruhr und die Gendarmerie auf den Beinen.

Einen Augenblick lang glaubte er sich verloren.

Wie versteinert, wie zu einer Bildsäule erstarrt, blieb er reglos stehen. Einige Minuten verstrichen. Die Tür war jetzt weit offen. Er wagte, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich gerührt. Er lauschte. Alles still, niemand war durch das Knarren der verrosteten Angel erwacht.

Die schlimmste Gefahr war vorbei, aber noch immer war er sehr erregt. Doch ging er nicht zurück. Auch als er alles verloren geglaubt hatte, war er nicht zurückgewichen. Er wollte nur rasch zu Ende kommen. Er tat einen Schritt vorwärts und war in dem Zimmer.

Es lag in tiefer Ruhe. Hier und da konnte man ungewisse Formen von Gegenständen gewahren, in denen er des Tags auf den Tisch verstreute Papiere, aufgeschlagene Folianten, an ein Pult gelehnte Bände, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betschemel erkannt hätte, die aber jetzt nur als dunkle Umrisse und helle Flecken zu unterscheiden waren. Behutsam drang Jean Valjean vor, wobei er es sorgfältig vermied, an Möbel anzustoßen. Im Hintergrund des Zimmers war der ruhige, gleichmäßige Atem des schlafenden Bischofs zu vernehmen.

Weiter drang er vor.

Plötzlich blieb er stehen. Er stand vor dem Bett. Er hatte es früher erreicht, als er erwartete.

Die Natur mischt zuweilen ihre Phänomene und Schauspiele fast planmäßig in unsere Handlungen, als ob sie uns nachdenklich stimmen wollte. Fast seit einer halben Stunde bedeckte eine große Wolke den Himmel. In dem Augenblick, da Jean Valjean vor dem Bett haltmachte, zerriß sie, und ein Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster auf das blasse Gesicht des Bischofs. Er schlief friedlich. Auch im Bett war er fast bekleidet, trug – wohl infolge der kalten Nächte im Alpenvorlande – ein braunes Baumwollhemd, das auch die Arme bis zu den Händen bedeckte. Sein Kopf lag in der entspannten Haltung der Ruhe seitlich auf dem Kissen; die linke Hand, die den Hirtenring trug, diese Hand, die so viele gute Werke vollbracht hatte, hing aus dem Bett. Sein Antlitz spiegelte Zufriedenheit, Hoffnung und Glück. Es war mehr als ein Lächeln, fast ein Strahlen. Auf seiner Stirn ein unbeschreiblicher Widerschein eines unsichtbaren Lichts. Jener geheimnisvolle Himmel, den die Seele der Gerechten während des Schlafs durchwandelt.