Jean Valjean hatte niemals etwas Ähnliches gesehen. Es war nicht zu beschreiben, was in ihm vorging; er selbst hätte es nicht angeben können. Es war eine Art tiefes Staunen. Was er dachte? Unmöglich zu erraten. Er war gerührt, tief beeindruckt. Aber welcher Art war seine Rührung? Er schien zugleich bereit, den Schädel des Greises einzuschlagen und ihm die Hand zu küssen.
Plötzlich wandte er sich ab, ging, ohne sich weiter um den Bischof zu kümmern, an dem Bett entlang auf den Wandschrank zu und setzte sein Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Der Schlüssel stak. Er öffnete. Das erste, was er gewahrte, war der Korb mit dem Silberzeug. Er nahm ihn, durchmaß mit großen Schritten und ohne jegliche Vorsicht das Zimmer, achtete nicht auf das Geräusch seiner Schritte, sondern erreichte die Tür, trat wieder in das Betzimmer, öffnete das Fenster, nahm seinen Stock, stopfte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb fort, sprang in den Garten, setzte über die Mauer wie ein Tiger und floh.
Der Bischof bei der Arbeit
Bei Sonnenaufgang erging sich Monsignore Bienvenu in seinem Garten. Frau Magloire kam in höchster Aufregung herbeigeeilt.
»Monsignore«, rief sie, »wissen Sie, wo der Korb mit den Silbersachen ist?«
»Ja.«
»Gelobt sei Jesus Christus!« rief sie, »ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«
Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet liegen gesehen. Er deutete darauf.
»Da ist er.«
»Leer! Und das Silber?«
»Ach, Sie meinen das Silber? Ich weiß nicht, wo es ist.«
»Großer Gott, gestohlen! Der Mann von gestern hat es gestohlen!«
Mit der ganzen Behendigkeit einer flinken Alten stürzte Frau Magloire in das Gebetzimmer, lief in den Alkoven und kehrte zurück. Der Bischof hatte sich über eine Staude gebeugt, die von dem Korb geknickt worden war, und betrachtete sie seufzend. Auf Frau Magloires Geschrei wandte er sich um.
»Monsignore, der Mann ist fort! Unser Silber ist gestohlen.«
Während sie noch schrie, bemerkte sie in der Ecke des Gartens ein abgebröckeltes Mauerstück.
»Sehen Sie, da ist er hinübergeklettert. Er ist in die Rue Cochefilet gesprungen. Diese Niedertracht! Unser ganzes Silber gestohlen!«
Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann sah er Frau Magloire ernst an und sagte sanft:
»War es denn unser Silber?«
Frau Magloire war sprachlos. Nach einer kurzen Pause fuhr der Bischof fort:
»Frau Magloire, zu Unrecht habe ich dieses Silber so lange bei mir behalten. Es gehörte den Armen. Wer war denn jener Mann? Ein Armer gewiß doch.«
»Ach, Herr Jesus!« rief Frau Magloire, »ich sag es ja nicht um meinetwillen oder wegen des Fräuleins, uns kann es ja recht sein, aber wie wollen Bischöfliche Gnaden denn jetzt essen?«
Verwundert sah sie der Bischof an.
»Ach, als ob es nicht Bestecke aus Zinn gäbe!« Frau Magloire zuckte die Achseln.
»Zinn riecht.«
»Gut, dann nehmen wir Eisen.«
Frau Magloire schnitt ein Gesicht.
»Eisen schmeckt.«
»Auch recht«, sagte der Bischof, »also Holz.«
Einige Augenblicke später frühstückte er an demselben Tisch, an dem gestern abend Jean Valjean gesessen hatte. Seine Schwester sagte kein Wort, Frau Magloire murrte dumpf. Monsignore Bienvenu machte die beiden darauf aufmerksam, daß er nicht einmal einen Holzlöffel oder eine Holzgabel benötigte, um sein Brot in die Milch zu stippen.
»Also was sagt man dazu?« murrte Frau Magloire im Hin- und Hergehen, »so einen Menschen nimmt man in sein Haus auf! So einen läßt man im Nebenzimmer schlafen! Ein Glück, daß er nur gestohlen hat. Die Beine zittern einem, wenn man nur daran denkt.«
Als Bruder und Schwester vom Tisch aufstanden, wurde an die Türe geklopft.
»Herein!« sagte der Bischof. Es wurde geöffnet, und eine seltsame Gruppe von Menschen drängte sich über die Schwelle. Drei hielten einen vierten am Kragen gepackt. Es waren Gendarmen. Der vierte war Jean Valjean. Ein Wachtmeister, der die Truppe zu führen schien, trat vor.
»Monsignore …«, begann er.
Bei diesem Worte blickte Jean Valjean, der düster und niedergeschlagen schien, auf.
Der Bischof trat, so rasch es ihm sein hohes Alter erlaubte, näher.
»Ach, da sind Sie ja«, sagte er zu Jean Valjean, »das ist mir lieb, Sie zu sehen. Ich hatte Ihnen doch auch die Leuchter gegeben, die silbernen, wissen Sie, damit Sie zweihundert Franken bekommen sollten, warum haben Sie die Bestecke genommen und die Leuchter hier gelassen?«
Jean Valjean schlug die Augen auf und sah den ehrwürdigen Bischof mit einem Ausdruck an, den keine menschliche Sprache wiederzugeben vermag.
»Monsignore«, rief der Wachtmeister, »so wäre also wahr, was der Mann sagte? Wir trafen ihn, und er sah aus wie einer, der etwas auf dem Kerbholz hat. Wir hielten ihn an und durchsuchten ihn. Da fanden wir diese Silbersachen.«
»Und er hat Ihnen gesagt«, unterbrach der Bischof lächelnd, »daß er sie von einem alten Priester geschenkt bekommen hat, bei dem er die Nacht verbrachte. Ich verstehe. Darum haben Sie ihn hergeführt. Es ist ein Mißverständnis.«
»Und demnach können wir ihn wieder gehen lassen?« fragte der Wachtmeister.
»Gewiß.«
»Du kannst gehen«, sagte einer der Gendarmen zu Jean Valjean. »Bist du taub?«
»Halt«, rief der Bischof, »bevor Sie gehen … die Leuchter!« Er trat an den Kamin, nahm die beiden Silberleuchter und reichte sie Jean Valjean. Wortlos, starr, sahen ihm die beiden Frauen zu.
Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Mechanisch griff er nach den beiden Leuchtern.
»Und jetzt gehen Sie in Frieden«, sagte der Bischof. »Übrigens, wenn Sie wiederkommen, mein Freund, brauchen Sie nicht durch den Garten zu gehen. Sie können immer die Straßentüre benützen, sie ist Tag und Nacht unversperrt.«
Die Gendarmen zogen sich zurück.
Noch immer stand Jean Valjean da wie ein Mensch, der ohnmächtig wird. Der Bischof trat dicht an ihn heran und sagte leise:
»Vergessen Sie niemals, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten dieses Geld dazu verwenden, ein anständiger Mensch zu werden.«
Jean Valjean konnte sich nicht erinnern, etwas Derartiges versprochen zu haben, aber er blieb still. Der Bischof hatte mit Nachdruck gesprochen. Feierlich fuhr er fort:
»Jean Valjean, mein Bruder, Sie gehören nicht mehr dem Bösen, sondern dem Guten. Ich kaufe Ihre Seele. Ich entziehe Sie den schwarzen Gedanken und dem Geist der Verderbnis und überantworte Sie Gott!«
Drittes Buch
Im Jahre 1817
Ein Doppelquartett
Im Jahre 1817 lieferten vier junge Pariser »einen famosen Streich«.
Von diesen vier Parisern war einer aus Toulouse, der andere aus Limoges, der dritte aus Cahors und der vierte aus Montauban; aber alle vier waren Studenten, und wer in Paris studiert, ist ein Pariser von Geburt.
Diese vier jungen Leute waren unbedeutend; Gesichter, wie man ihnen auf der Straße begegnet; weder gut noch schlecht, weder klug noch dumm, keine Genies, aber auch keine ausgemachten Tröpfe; hübsche Kerle, wie sie der April des Menschenlebens, das zwanzigste Lebensjahr, hervorbringt.
Sie hießen Félix Tholomyès aus Toulouse, Listolier aus Cahors, Fameuil aus Limoges und schließlich Blachevelle aus Montauban. Natürlich hatte jeder seine Geliebte. Blachevelle die Favourite, die so genannt wurde, weil sie in England gewesen war, Listolier die Dahlia, die einen Blumennamen zum nom de guerre gewählt hatte; Fameuil Zéphine – der Name ist eine Abkürzung aus Joséphine; Tholomyès endlich Fantine, die Blonde geheißen wegen ihrer schönen goldblonden Haare.