Favourite, Dahlia, Zéphine und Fantine waren vier reizende, frische, fröhliche Geschöpfe, noch immer ein wenig Arbeitermädchen, denn sie hatten die Nadel noch nicht ganz weggeworfen, wohl schon ein wenig durch ihre Liebschaften aus der Bahn geschleudert, aber noch mit einem Rest jener Heiterkeit und Ehrbarkeit im Antlitz und im Wesen, die bei den Frauen den ersten Fall überdauert. Eine unter den vieren wurde die Junge genannt, weil sie die jüngste war, eine andere die Alte; die Alte zählte dreiundzwanzig Jahre. Es soll nicht verschwiegen werden, daß die drei anderen erfahrener, leichtsinniger, ja sogar leichtfertiger waren als die blonde Fantine, die ihre ersten Illusionen noch nicht überwunden hatte.
Das hätte man von Dahlia, Zéphine und vor allem von Favourite wohl nicht behaupten können. Sie hatten jede in ihrem jungen Lebensroman schon manche Episode hinter sich, und der Liebhaber, der im ersten Kapitel Adolphe hieß, war im zweiten ein Alphonse und im dritten ein Gustave. Armut und Eitelkeit sind zwei schlimme Ratgeber: der eine drängt, der andere lockt; und da ist kein hübsches, junges Mädchen aus dem Volke, das nicht beiden Gehör schenkte. Diese schlechtbewachten Seelen sind empfänglich. Daher rührt mancher Sündenfall, daher mancher Stein, der nach jenen Geschöpfen geworfen wird.
Favourite war in England gewesen und wurde darum von Zéphine und Dahlia bewundert. Frühzeitig hatte sie es zu einer eigenen Wohnung gebracht. Ihr Vater war ein alter, brutaler Mathematiklehrer, der in jungen Jahren einmal gesehen hatte, wie das Kleid einer Kammerjungfer an einem Kaminvorsatz hängenblieb; darüber war er in Glut geraten, und so war Favourite entstanden. Zuweilen traf sie ihren Vater auf der Straße, und er grüßte sie sogar. Eines Morgens empfing sie den Besuch einer alten Frau, die wie eine Betschwester aussah.
»Sie kennen mich wohl nicht, Fräulein?«
»Nein.«
»Ich bin deine Mutter.«
Die Alte machte sich über den Speiseschrank her, aß und trank, ließ eine Matratze holen und blieb da. Diese Mutter, eine mürrische und frömmlerische Person, sprach niemals mit Favourite, aß für vier, hielt mit dem Portier vertraute Freundschaft und sprach schlecht von ihrer Tochter.
Was Dahlia zu Listolier getrieben hatte – es hätte auch ein anderer sein können –, kurz zur Untätigkeit, war nichts weiter, als daß sie allerliebste, rosige Fingernägel hatte. Wie sollte sie da arbeiten? Wer tugendhaft bleiben will, darf seiner Hände nicht achten.
Und was Zéphine betrifft, so hatte sie es Fameuil angetan mit ihrer schelmischen und schmeichlerischen Art zu sagen »Ja, mein Herr!«
Die jungen Leute waren Kameraden, die Mädchen Freundinnen. Solche Liebe hält mit solcher Freundschaft Nachbarschaft.
Tugend und Philosophie sind verschiedene Dinge; Favourite, Zéphine und Dahlia waren philosophisch veranlagt, Fantine tugendhaft.
Tugendhaft? Und Tholomyès? Salomo würde sagen, daß die Liebe ein Teil der Tugend ist. Und wir wollen nur bemerken, daß es ja Fantines erste Liebe war, eine uneingeschränkte, treue Liebe.
Fantine war auch die einzige von den vieren, die sich nur von einem duzen ließ.
Sie stammte aus den Tiefen der Gesellschaft. Sie war aus der undurchdringlichen Finsternis der sozialen Niederungen hervorgegangen und trug gewissermaßen das Mal der Anonymität auf der Stirn. In Montreuil sur Mer war sie geboren, von welchen Eltern, wußte niemand zu sagen. Weder Vater noch Mutter waren bekannt. Sie hieß Fantine, hatte niemals einen anderen Namen gehabt. Zur Zeit ihrer Geburt herrschte noch das Direktorium. Einen Familiennamen hatte sie nicht, weil es ihr an Familie gebrach, an einem Taufnamen fehlte es ihr, weil damals nicht getauft wurde. So bekam sie den Namen, den ihr der erste beste beilegte, dem die Kleine barfuß auf der Straße in den Weg gelaufen war. Sie bekam ihren Namen, wie ein Regentropfen auf den Kopf fällt. Man nannte sie die kleine Fantine; mehr wußte man nicht darüber. Dieses Menschenkind war eben so auf die Welt gekommen.
Mit zehn Jahren verließ Fantine die Stadt und nahm bei einem Bauern Dienst. Fünfzehnjährig kam sie nach Paris, um das Glück zu suchen. Sie war hübsch und blieb rein, solange sie konnte. Eine hübsche Blondine mit schönen Zähnen. Gold und Perlen waren ihre Mitgift, Gold auf dem Kopf und Perlen im Munde.
Mit ihren Händen erwarb sie sich ihr Brot; um zu leben, liebte sie schließlich, denn auch das Herz ist hungrig. Sie liebte Tholomyès.
Ihm war sie ein liebenswürdiger Zeitvertreib; er war für sie eine Leidenschaft. Die Straßen des Quartier Latin, in denen es von Studenten und Grisetten wimmelt, sahen den Beginn dieses kurzen Traumes. In diesem Straßengewirr des Panthéonhügels, wo so viele Abenteuer beginnen und enden, war Fantine Tholomyès lange davongelaufen, aber sie hatte es so eingerichtet, daß sie ihn immer wieder traf. Es gibt eine Art zu meiden, die dem Suchen gleicht. Kurz, die Idylle kam zustande.
Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, an deren Spitze Tholomyès stand. Er war gewissermaßen der Kopf.
Kein ganz junger Student mehr; und noch dazu reich, denn er hatte viertausend Franken Rente zu verzehren, ein Einkommen, das rings um Sainte Geneviève für splendid gelten kann. Tholomyès war ein Lebemann von dreißig Jahren und nicht besonders gut erhalten. Er hatte Falten und schlechte Zähne. Auch die Haare gingen ihm aus, und er selbst sagte ohne allzu große Trauer: Mit dreißig eine Glatze, mit vierzig kahl. Auch seine Verdauung war mangelhaft, und sein Auge tränte. Aber im Ausmaß, in dem seine Jugend erlosch, entzündete sich seine Heiterkeit; er ersetzte die Zähne durch Späße, die Haare durch vergnügte Einfälle, die Gesundheit durch Ironie; und sein tränendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war bereits entblättert und stand doch noch in Blüte. Seine Jugend machte sich vorzeitig auf den Weg, aber sie trat sozusagen einen geordneten Rückzug an. Ein Stück, das er für das Vaudeville geschrieben hatte, war abgelehnt worden. Von Zeit zu Zeit schrieb er Verse. Auch verschaffte es ihm eine gewisse Überlegenheit, daß er ein großer Zweifler war, was ja schwachen Köpfen immer gewaltig imponiert.
Eines Tages nahm Tholomyès die drei andern beiseite und sagte:
»Es ist jetzt ein gutes Jahr, daß Fantine, Dahlia, Zéphine und Favourite verlangen, wir sollten ihnen eine Überraschung bereiten. Wir haben es ihnen feierlich versprochen. Jetzt bekommen wir es immer zu hören, zumal ich. So wie in Neapel die alten Weiber dem heiligen Januarius zurufen: Faccia gialluta, fa un miracolo, Gelbgesicht, tu ein Wunder, ebenso sagen unsere Schönen ohne Unterlaß: Tholomyès, wann kommt die Überraschung? Nun, gleichzeitig bekommen wir von unseren Eltern Briefe. Wir sitzen zwischen zwei Feuern. Der kritische Augenblick ist da, wir müssen etwas tun.«
Tholomyès senkte die Stimme und sagte geheimnisvoll etwas so Lustiges, daß alle vier zu lachen begannen und Blachevelle vergnügt ausrief:
»Das ist eine Idee!«
Das Ergebnis war, daß in einer verräucherten Kneipe für nächsten Sonntag eine Landpartie verabredet wurde, zu der die vier jungen Mädchen eingeladen werden sollten.
Vier und vier
Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie sich vor fünfundzwanzig Jahren solch eine Landpartie von Studenten und Grisetten abspielte. Paris hat heute nicht mehr dieselbe Umgebung. Im letzten halben Jahrhundert hat sich rings um Paris alles verändert, und wo früher der Kuckuck rief, rattern jetzt Waggons; wo die Postkutsche kroch, fährt die Bahn, und an Stelle des Postschiffs ist der Dampfer getreten; für uns heute ist Fécamp, was damals Saint-Cloud war.