Die vier Paare begingen gewissenhaft alle Torheiten, die damals bei Ausflügen aufs Land möglich waren. Die Ferien hatten eben begonnen, es war ein warmer, sonnenheller Tag. Favourite, die einzige, die schreiben konnte, hatte im Namen der vier Frauen an Tholomyès geschrieben: früh aufstehen ist fein. Darum waren auch schon alle um fünf auf den Beinen gewesen. Sie fuhren in der Postkutsche nach Saint-Cloud, bewunderten den Wasserfall, der gerade trocken lag, und meinten, er müsse doppelt schön sein, wenn Wasser darin wäre. Dann frühstückten sie in der Tête-Noire, leisteten sich eine Rundfahrt auf dem Teich, besuchten die Laterne des Diogenes, spielten Roulette an der Brücke von Sèvres, pflückten in Puteaux Blumen, kauften in Neuilly Pfeifchen, aßen überall Apfelkuchen und waren bester Laune.
Um ganz glücklich zu sein, fehlte nur eine kleine Widerwärtigkeit, etwa ein unvorhergesehener Regenguß; denn Favourite hatte, als man aufbrach, in belehrendem und mütterlichem Ton erklärt:
»Die Schnecken kriechen über den Weg. Das bedeutet Regen, Kinder!«
Tholomyès marschierte immer als letzter. Er war bester Laune, aber man merkte, daß er regierte. Sein Hauptschmuck waren Hosen mit »Elefantenbeinen«, Nankinghosen mit Kupferstegen. In der Hand schwang er einen mächtigen Spazierstock, der seine zweihundert Franken gekostet haben mochte, und da er sich alles erlaubte, hielt er sogar so ein neumodisches Ding, eine Zigarre, im Munde. Ihm war nichts heilig, er rauchte!
Tholomyès ist grandios, sagten die andern voll Bewunderung. Diese Hosen! Diese Energie!
Was Fantine angeht, so war sie die reinste Freude. Gott hatte ihr offenbar diese prächtigen Zähne gegeben, damit sie lachen sollte. Ihr Strohhütchen mit den langen, weißen Bändern trug sie lieber in der Hand als auf dem Kopf. Ihr dichtes, blondes Haar, das sich leicht auflöste und immer wieder hochgesteckt werden mußte, hätte einer »Galatea auf der Flucht« dienen können. Ihre rosigen Lippen zuckten vor Lebendigkeit. Die sinnlich geschwungenen Lippen, die einer alten Erigonemaske nachgeahmt schienen, mochten zu Kühnheiten herausfordern, aber die langen, bescheiden gesenkten Wimpern wirkten mildernd. Ihre ganze Toilette hatte irgend etwas Fröhliches, zu Gesang und Heiterkeit Anregendes; sie trug ein malvenfarbenes Barègekleid, kleine Goldkäferschuhe, deren Bänder ein X auf die weißen ajourierten Strümpfe zeichneten, und einen Musselinspenzer nach Marseiller Art, der dort Canezou (zusammengezogen aus quinze und août, fünfzehnter August) genannt wird, und dieser Name bedeutet, auf der Cannebière gesprochen, schönes Wetter, Sonne, Süden. Die andern drei Freundinnen, minder schüchtern, wie wir schon bemerkten, waren tiefer ausgeschnitten, und gerade im Sommer wirkt der tiefe Ausschnitt unter den großen, blumenbedeckten Hüten anmutig und aufmunternd; aber der Canezou der blonden Fantine, dieses durchsichtige Kleidungsstück, das soviel verbirgt und doch wieder verrät, verheimlicht und zugleich preisgibt, war eine köstliche Erfindung der Schüchternheit, und der berühmte Liebeshof der Vicomtesse de Cette mit den grünen Meeraugen hätte gewiß diesem Kleidungsstück, das doch auf Schamhaftigkeit Anspruch erhob, den großen Preis der Koketterie zugeteilt. Die Naivität ist manchmal die größte Geschicklichkeit, das kommt vor.
Fantines Gesicht war strahlend und rein, ihr Profil fein, die Augen zeigten ein tiefes Blau; kleine, gutgeformte Füße, prachtvoll angesetzte Gelenke, weiße Haut, die das Blau der Adern durchschimmern ließ, kindlich frische Wangen, der Hals kräftig, wie jener der äginetischen Juno, ein starker, geschmeidiger Nacken, Schultern, die ein Coustou modelliert haben könnte, und in ihrer Mitte ein feines, durch den Musselin erkennbares Grübchen; Heiterkeit durch Träumerei gedämpft – das war Fantines Wesen, man ahnte unter diesen Bändern und Stoffen eine Statue, in dieser Statue eine Seele.
Fantine war schön, ohne es recht zu wissen. Jene seltenen Träumer, die nur die Vollkommenheit anerkennen wollen, hätten in dieser kleinen Arbeiterin durch den Schleier der Pariser Anmut die heilige antike Harmonie erschaut. Diese Tochter des niedrigsten Volkes hatte Rasse. Sie war schön auf doppelte Art, schön als Stil und als Rhythmus.
– – – – – – – -- --
Nachdem man sich auf der Rutschbahn vergnügt hatte, mußte man ans Essen denken; man war müde und hielt schließlich seinen Einzug bei Bombarda, in jenem Restaurant, das der berühmte Bombarda auf den Champs-Elysées als Filiale seines Hauptgeschäfts in der Rue Rivoli an der Passage Delorme eingerichtet hatte.
Tischgespräche und Liebesgespräche sind gemeinhin ungegenständlich; die Reden Verliebter möchte man mit den Wolken, die der Esser mit Rauch vergleichen.
Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyès trank, Zéphine lachte, Fantine lächelte. Listolier blies auf seiner Holztrompete, die er in Saint-Cloud erstanden hatte. Favourite beunruhigte Blachevelle mit zärtlichen Bitten und sagte:
»Blachevelle, ich bete dich an!«
Das ermunterte Blachevelle zu der Gegenfrage:
»Was tätest du, Favourite, wenn ich dich nicht mehr liebte?«
»Das sollst du nicht einmal zum Spaß sagen!« rief Favourite. »Wenn du mich nicht mehr liebtest, liefe ich dir nach, würde dir die Augen auskratzen, dich mit Wasser begießen, und zuletzt ließe ich dich verhaften.«
An Blachevelles Lächeln war zu erkennen, daß diese Antwort seiner Eigenliebe wohltat.
»Ja«, sagte Favourite, »ich würde die Polizei rufen! Nicht schämen würde ich mich! Canaille!«
Blachevelle lehnte sich entzückt zurück und schloß stolz die Augen.
Dahlia flüsterte Favourite kauend zu:
»Bist du wirklich so verrückt nach diesem Blachevelle?«
»Widerlich ist er mir«, sagte Favourite ebenso leise und nahm ihre Gabel. »Dieser Geizkragen! Ich bin verliebt in den kleinen vis-à-vis, weißt du, du kennst ihn doch? Er kehrt sehr den Schauspieler heraus. Ich mag Schauspieler gern leiden. Sooft er nach Hause kommt, jammert seine Mutter: Mein Gott, mein Gott, schon wieder hat man keine Ruhe! Gleich wird er zu schreien anfangen. Liebster, Bester, du bringst noch meinen Kopf zum Zerspringen! Er steigt nämlich immer bis zum Boden hinauf, so hoch es nur irgend geht, und singt und deklamiert da oben, und weiß Gott was noch! Natürlich hört man ihn unten! Und er verdient zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt mit Schreibarbeiten. Er ist der Sohn eines alten Kantors von Saint-Jacques du Haut-Pas. Ein feiner Bursche. Er vergöttert mich so sehr, daß er eines Tages, als er mich Teig kneten sah, herüberrief: ›Mamsell, machen Sie Kuchen aus Ihren Handschuhen, ich werde sie essen!‹ So etwas Nettes können doch nur Künstler sagen. Ein prächtiger Mensch. Ich bin auf dem besten Wege, mich über beide Ohren in ihn zu verlieben. Aber das ist gleichgültig, darum sage ich Blachevelle doch, daß ich ihn anbete. Wie ich lieben kann, was?«
Und nach einer Pause fuhr sie fort:
»Mir ist recht elend, Dahlia. Den ganzen Sommer über hat es geregnet, und immer gab es Wind, obwohl ich keinen Wind ausstehen kann; Blachevelle ist furchtbar knauserig. Auf dem Markt kann man nicht einmal Bohnen bekommen, man weiß gar nicht mehr, was man auf den Tisch bringen soll. Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Und die Butter ist auch nicht mehr zu bezahlen. Das Schrecklichste ist, daß wir in einem Zimmer essen, in dem ein Bett steht. Das vergällt mir das ganze Leben.«
Und jetzt wandte sie sich an Tholomyès und fragte energisch:
»Wo bleibt die versprochene Überraschung?«
»Ach ja, jetzt wäre es wohl an der Zeit. Meine Herren, die Stunde hat geschlagen, die Damen sollen ihre Überraschung haben. Meine Damen, warten Sie einen Augenblick auf uns.«
»Vorher noch einen Kuß«, verlangte Blachevelle.
»Auf die Stirn«, mahnte Tholomyès.
Jeder küßte feierlich seine Geliebte auf die Stirn, dann marschierten die vier Männer der Reihe nach zur Türe hinaus, wobei sie die Zeigefinger vielsagend auf die Lippen legten.