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Einige Schritte abseits saß auf der Schwelle der Herberge die Mutter, eine Frau von wenig einnehmendem Äußern, die aber in diesem Augenblick immerhin etwas Rührendes an sich hatte; mittels eines langen Stricks brachte sie die Kette zum Schaukeln und überwachte dabei ängstlich die beiden Kleinen mit jenem halb tierischen, halb himmlischen Ausdruck, der der Mutterschaft eigentümlich ist. Bei jeder Bewegung kreischten die Eisenringe gellend auf, die kleinen Kinder jubelten, und die untergehende Sonne mischte ihr Licht in all die Freude; es war, als ob diese Laune des Zufalls eine Titanenkette in eine Girlande der Cherubim verwandelt hätte.

Während die Mutter die Kleinen wiegte, sang sie eine damals berühmte Romanze:

»So muß es sein, sagt der Soldat …«

Ihr Gesang und die Beobachtung der Kinder hinderte sie zu hören oder zu sehen, was auf der Straße vorging.

Inzwischen war, als sie die erste Strophe jener Romanze anstimmte, jemand näher getreten, und plötzlich hörte sie knapp über ihrem Ohr eine Stimme.

»Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«

»… Zur schönen, süßen Imogen«, fuhr die Mutter fort, wie es im Text wohl lautete; dann wandte sie sich um.

Eine Frau stand vor ihr. Auch sie hatte ein Kind in den Armen.

Überdies schleppte sie einen recht umfangreichen Reisesack, der ziemlich schwer zu sein schien.

Das Kind dieser Frau war das entzückendste Wesen, das man sich nur vorstellen konnte. Ein Mädchen von zwei oder drei Jahren. Und nicht weniger kokett herausgeputzt wie die beiden andern Kleinen. Es trug ein Häubchen aus feinem Linnen, war mit Bändern und Spitzen geschmückt. Das Kleidchen war zurückgeschoben und ließ die weißen, prallen, wohlgeformten Schenkel sehen. Das Gesicht war rosig und verführerisch. Die Kleine verlockte den Beschauer, sie anzubeißen wie einen Apfel. Von ihren Augen konnte man nur sehen, daß sie sehr groß sein mußten und schöne Lider zeigten; denn sie schlief.

Sie schlief den ungestörten Schlaf ihres Alters. Mutterarme sind Zärtlichkeit; Kinder schlafen darin tief.

Was die Mutter betraf, so machte sie einen ärmlichen und traurigen Eindruck. Gekleidet war sie wie eine Arbeiterin, die wieder Bäuerin werden will. Sie war jung. War sie auch schön? Vielleicht, aber in dieser Kleidung kam es nicht zur Geltung. Ihr Haar, von dem nur eine blonde Locke sichtbar war, schien sehr dicht, aber es war sorgfältig unter einer Art Nonnenhaube, die am Kinn zusammengebunden war, verborgen. Schöne Zähne kommen nur beim Lachen zum Vorschein, und diese Frau schien nicht fröhlich gestimmt. Es war, als ob ihre Augen noch nicht lange trocken wären. Sie war blaß, sah müde und kränklich aus. An der Art, wie sie das schlafende Kind in ihren Armen ansah, war zu erkennen, daß sie es selbst genährt hatte. Um ihre Hüften hatte sie ein breites, blaues Tuch, wie es die Invaliden gebrauchen, geschlungen. Sie hatte sonnenverbrannte, mit Sommersprossen bedeckte Hände, und der Zeigefinger der Rechten war hart und zerstochen; ein brauner Mantel aus dicker Wolle und ein Leinenkleid war ihre Bekleidung.

Es war Fantine.

Kaum war sie zu erkennen. Nur wenn man näher zusah, konnte man bemerken, daß sie immer noch schön war. Eine traurige Falte, die wie einer ersten ironischen Regung entsprungen schien, durchschnitt die rechte Wange. Von der luftigen Musselinkleidung und den Bändern, die früher ihre Heiterkeit, ihren Übermut und ihre Lust zu singen zum Ausdruck gebracht hatten, war jetzt nicht mehr zu bemerken als von jenen Tautropfen, die in der Sonne wie Diamanten glitzern, aber bald verdunsten und den schwarzen Zweig hervortreten lassen.

Zehn Monate waren seit jenem »guten Scherz« verstrichen.

Was hatte sich inzwischen zugetragen?

Man errät es. Einsamkeit. Not. Fantine hatte Favourite, Zéphine und Dahlia bald aus dem Gesicht verloren; sobald das Band gerissen war, das jene Männer um sie geschlungen, waren sie auseinandergelaufen, und vierzehn Tage später wären sie sehr verwundert gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, sie seien Freundinnen: das war jetzt überflüssig.

Fantine war allein geblieben.

Der Vater ihres Kindes war fort, denn ach, ein solcher Bruch pflegt ja unwiderruflich zu sein … also war sie vollends vereinsamt, allein mit ihrer verringerten Arbeitslust und ihrer gesteigerten Freude am Vergnügen. Durch die Verbindung mit Tholomyès hatte sie sich daran gewöhnt, das schlichte Gewerbe, das sie auszuüben verstand, zu verachten, und hatte ihre Verdienstmöglichkeiten vernachlässigt. Nun war keine Hilfe zu erhoffen. Fantine konnte kaum lesen und nicht schreiben. Man hatte ihr in ihrer Kindheit nur beigebracht, ihren eigenen Namen aufs Papier zu setzen. So ließ sie durch einen öffentlichen Schreiber einen Brief an Tholomyès richten, später einen zweiten und noch einen dritten. Tholomyès hatte nicht geantwortet. Eines Tages hörte Fantine einige Frauen über ihr Töchterchen sagen:

»Nimmt man solche Kinder ernst? Man kann nur die Achseln zucken.«

Damals war ihr Tholomyès eingefallen, der auch die Achseln zuckte und dieses kleine, unschuldige Lebewesen nicht ernst nehmen wollte. Da dachte sie schlecht von ihm.

Aber was sollte sie tun? Sie wußte sich keinen Rat. Sie hatte einen Fehltritt begangen, aber im Grunde ihres Herzens war sie schamhaft und tugendhaft. Sie begriff ungefähr, daß sie dem Elend und der Schmach verfallen müsse. Sie mußte sich ein Herz fassen, und sie tat es. Ihr kam der Gedanke, nach ihrer Vaterstadt, Montreuil sur Mer, zurückzukehren. Vielleicht würde sie dort einen Bekannten finden, der ihr Arbeit verschaffte. Allerdings … sie mußte ihren Fehltritt verbergen. Es wurde ihr allmählich klar, daß sie sich zu einer zweiten, noch härteren Trennung werde verstehen müssen. Ihr Herz zuckte zusammen, aber sie rang sich durch. Fantine besaß, wie der Leser finden wird, einen wilden Lebensmut. Schon hatte sie jeglichem Schmuck entsagt, hatte sich in Leinen gekleidet und all ihre Seide, ihre Stoffe, Bänder, Spitzen dem Kinde, der einzigen Eitelkeit, die ihr verblieben war, geschenkt. Sie verkaufte ihre kleine Habe und löste dafür zweihundert Franken ein; nachdem sie ihre kleinen Schulden bezahlt hatte, blieben ihr etwa achtzig.

Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie an einem schönen Frühlingsmorgen Paris verließ und ihr Kind auf dem Rücken aus der Stadt hinaustrug. Wer die beiden so gesehen hätte, wäre gewiß einer Regung des Mitleids zugänglich gewesen. Diese Frau besaß nichts auf der Welt als dieses Kind und dieses Kind nichts als diese Frau. Fantine hatte das Kind genährt, davon war ihre Brust etwas ermüdet, und sie hustete leicht.

Wir werden keine Gelegenheit mehr haben, von Félix Tholomyès zu sprechen. Begnügen wir uns zu sagen, daß er zwanzig Jahre später unter Louis Philippe ein angesehener Provinzadvokat war, einflußreich und begütert, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener; und auch dann noch ein Lebemann.

Gegen Mittag war Fantine, nachdem sie eine Strecke in den sogenannten Kleinfuhren für Paris und Umgebung, zu vier Sous die Meile, zurückgelegt hatte, in Montfermeil eingetroffen. Als sie an der Herberge der Thénardiers vorüberkam, hatten die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrer Kette ergötzten, Fantines Aufmerksamkeit erregt, und sie war vor ihnen wie vor einer Vision der Freude stehengeblieben. Tiefgerührt betrachtete sie die beiden. Wo Engel sind, kann das Paradies nicht fern sein. Sie glaubte, auf dem Schild der Herberge das geheimnisvolle »Hier ist es!« der Vorsehung zu sehen. Gewiß waren diese beiden Kinder glücklich. Fantine hatte sie mit Bewunderung und Zärtlichkeit betrachtet und konnte sich nicht enthalten, in einem Augenblick, da die Mutter zu einem neuen Vers ansetzte, zu sagen: »Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«