Dieser Thénardier mußte dem Kenner der Physiognomik auf den ersten Blick mißfallen. Manche Menschen braucht man nur anzusehen, um ihnen zu mißtrauen. Solche Leute blicken beunruhigt auf ihre Vergangenheit zurück, drohend auf ihre Zukunft. Etwas Unbekanntes ist in ihnen. Man weiß nicht, was sie getan haben oder noch tun werden. Ein Schatten in ihrem Blick verrät sie. Man braucht sie oft nur ein Wort sagen zu hören, nur eine Gebärde von ihnen zu erhaschen, und man ahnt ein dunkles Geheimnis in ihrer Vergangenheit oder düstere Möglichkeiten ihrer Zukunft.
Thénardier war, wenn man ihm glauben will, Soldat gewesen, Sergeant, wie er behauptete; angeblich hatte er an dem Feldzuge von 1815 teilgenommen und sich dabei ausgezeichnet. Das Schild seiner Kneipe war eine Anspielung auf eine seiner Waffentaten. Er hatte es selbst gemalt, denn er konnte alles, aber alles schlecht.
Die Thénardier war gerade klug genug, um alberne Bücher zu lesen. Sie lebte davon. Nichts anderes beschäftigte ihren Verstand; das hatte ihr seinerzeit, als sie noch jung war, ja sogar noch später, den Schein einer gewissen Besinnlichkeit verliehen, so daß sie neben ihrem Mann, einem Schurken von Format und geschulten Lumpen, geradezu angenehm wirkte. Sie war zwölf oder fünfzehn Jahre jünger als er. Später, als ihre romantischen Schmachtlocken zu ergrauen begannen und aus der Pamela eine Megäre wurde, war die Thénardier nur noch eine plumpe, böse Frau, die dumme Bücher las.
Man beschäftigte sich nicht ungestraft mit Albernheiten.
So geschah es, daß die älteste Tochter der Thénardiers Eponine getauft wurde; und die jüngere, das arme Geschöpf, sollte gar Gülnare heißen; das Glück wollte, daß ein Roman von Ducray-Duménil diese Schmach von ihr fernhielt; sie kam mit dem Namen Azelma davon.
Die Lerche
Es genügt, um Erfolg zu haben, nicht, daß man ein Schuft ist. Die Herberge ging schlecht.
Dank den siebenundfünfzig Franken der Reisenden konnte Thénardier einem Protest entgehen und seinen Wechsel honorieren. Aber schon im nächsten Monat brauchte er wieder Geld. Die Frau trug Cosettes Kleider nach Paris und versetzte sie auf dem Mont de Piété für sechzig Franken. Sobald diese Summe verausgabt war, gewöhnten sich die beiden daran, die Kleine für ein Kind zu halten, das sie aus reiner Barmherzigkeit bei sich behielten, und sie behandelten sie danach. Da sie jetzt keine Ausstattung mehr besaß, mußte sie die alten Kleider und Hemden der kleinen Thénardiers auftragen. Ihre Nahrung war, was übrigblieb – etwas besser als die des Hundes und etwas schlechter als die der Katze. Hund und Katze waren übrigens ihre Tischgenossen. Cosette aß mit ihnen unter dem Tisch aus einem Holznapf, der dem der beiden Tiere glich.
Die Mutter hatte sich, wie der Leser noch sehen wird, in Montreuil sur Mer niedergelassen. Allmonatlich ließ sie an die Thénardiers schreiben, um Nachrichten über ihr Kind einzuholen. Und unwandelbar antworteten die Thénardiers:
»Cosette geht es glänzend.«
Als die ersten sechs Monate abgelaufen waren, sandte die Mutter sieben Franken für den siebenten; monatlich liefen ihre Zahlungen pünktlich ein. Aber das Jahr war noch nicht voll, als Thénardier sagte:
»Wir sind ja keine Wohltäter! Was sollen wir denn von ihren sieben Franken alles leisten?«
Und er schrieb, sie müsse jetzt zwölf Franken bezahlen. Da sie der Mutter sagten, das Kind sei glücklich und gedeihe aufs beste, fügte sie sich und sandte zwölf Franken.
Gewisse Naturen können nicht nach einer Seite lieben, ohne nach der anderen zu hassen. Mutter Thénardier liebte ihre beiden Töchter leidenschaftlich, aber das hatte nur zur Folge, daß sie die Fremde verabscheute. So wenig Platz Cosette auch einnahm, ihr schien immer, es sei Platz, der den eigenen Kindern gebühre, und sie hatte ein Gefühl, als ob Cosette ihren Kindern die Luft wegschnappe. Diese Frau hatte, wie viele ihrer Art, ein gewisses Quantum Liebe und ein gewisses Quantum Püffe und Flüche täglich zu verausgaben. Wäre Cosette nicht im Hause gewesen, so wären gewiß auch die Grobheiten den eigenen Kindern, sosehr sie auch geliebt wurden, zugefallen; die Fremde aber leistete den beiden Mädchen den Dienst, alle Prügel auf sich abzuziehen. Cosette konnte nichts tun, ohne einen Hagel unverdienter und grausamer Züchtigungen auf sich herabzulocken.
Da die Thénardier gegen Cosette schlecht war, taten Eponine und Azelma desgleichen. In diesem Alter sind die Kinder nur Kopien der Eltern.
So verstrich ein Jahr, und noch eines.
Im Dorf hieß es: diese Thénardiers sind doch gute Leute. Sie sind nicht reich, aber sie bringen dieses arme Kind durch, das man bei ihnen liegengelassen hat.
Denn man nahm an, Cosette sei von ihrer Mutter vergessen worden.
Inzwischen hatte Thénardier erfahren – wir wissen nicht, auf welchen dunklen Umwegen –, daß das Mädchen unehelich geboren war und daß die Mutter es verleugnen mußte. Sofort verlangte er fünfzehn Franken monatlich, schrieb, die Kleine wachse und esse für drei, drohte sogar, sie zurückzuschicken.
Die Mutter zahlte auch die fünfzehn Franken.
Von Jahr zu Jahr wuchs das Kind, wuchs auch sein Elend.
Solange Cosette klein war, hatte sie den beiden anderen Kindern als Prügelfänger gedient; seit sie etwas größer war (noch nicht ganz fünf Jahre), diente sie als Hausmagd.
Cosette erledigte alle Gänge, säuberte Stuben, Hof und Straße, wusch Geschirre, trug sogar kleine Lasten. Die Thénardiers fühlten sich zu diesen Forderungen um so mehr berechtigt, als die Mutter, die sich noch immer in Montreuil sur Mer aufhielt, begann, unpünktlich zu zahlen. Sie blieb einige Monate mit ihren Sendungen im Rückstand.
Wenn sie damals, nach drei Jahren, nach Montfermeil gekommen wäre, hätte sie ihr Kind nicht wiedererkannt. Die niedliche, frische, kleine Cosette war jetzt mager und blaß. Sie hatte etwas Unruhiges in ihrem Wesen, etwas »Tückisches, Falsches«, wie die Thénardiers sagten.
Die Ungerechtigkeit hatte sie verschlossen, das Elend hatte sie häßlich gemacht. Nur ihre schönen Augen waren ihr verblieben, aber es tat weh, in sie hineinzuschauen, denn sie schienen nur so groß, um all das Unglück zu fassen.
In der Gegend nannte man sie Lerche. Das Volk, das Bildvergleiche liebt, hatte sie so genannt, weil dieses Geschöpf, kaum größer als ein Vögelchen, allmorgendlich als erste im Hause und im ganzen Dorfe aufstand.
Nur daß die arme Lerche niemals sang.
Fünftes Buch
Der Abgrund
Ein Fortschritt in der Industrie des schwarzen Glases
Was war aus dieser Mutter, die nach der Ansicht der Leute von Montfermeil ihr Kind im Stich gelassen hatte, geworden?
Nachdem sie die kleine Cosette bei den Thénardiers zurückgelassen hatte, war sie weitergewandert und schließlich nach Montreuil sur Mer gekommen.
Das war, wie der Leser sich erinnert, im Jahre 1818 gewesen.
Zehn Jahre früher hatte Fantine ihre Heimat verlassen. Montreuil sur Mer hatte sich sehr verändert. Während Fantine immer tiefer ins Elend herabgesunken war, hatte ihre Heimatstadt einen Aufschwung zu Wohlstand und Gedeihen genommen. Vor etwa zwei Jahren hatte sich ein Umschwung in der Industrie vollzogen, der für diesen kleinen Ort ein großes Ereignis wurde. Diese Einzelheit ist wichtig, und wir müssen näher auf sie eingehen.
Seit undenklichen Zeiten war es das besondere Gewerbe von Montreuil sur Mer, englischen Gagat und deutsches Schwarzglas nachzuahmen. Diese Industrie hatte immer ihr Leben gefristet, aber infolge des hohen Preises der Rohstoffe keinen Aufschwung nehmen können. Als Fantine zurückkehrte, war eben eine unerhörte Umwälzung in den Arbeitsmethoden dieser Industrie vollzogen worden. Gegen Ende des Jahres 1815 war ein Unbekannter in die Stadt gekommen und hatte die Idee gehabt, in der Gagaterzeugung das Harz durch Gummilack zu ersetzen. Diese geringfügige Änderung hatte genügt, eine Revolution hervorzurufen. Denn jetzt war billiger Rohstoff zur Genüge vorhanden, und so konnten zunächst die Löhne gesteigert werden, ein Vorteil, der für den ganzen Ort fühlbar wurde; dann konnte die Ware verbessert werden, was den Konsumenten zunutze kam, und schließlich konnte sie im Preise gesenkt werden, obwohl der Fabrikant den dreifachen Gewinn einstrich.