»Ein guter Bürgermeister ist eine nützliche Sache! Darf man nein sagen, wenn man Gutes tun soll?«
Dies war die dritte Stufe seines Aufstiegs. Vater Madeleine war Herr Madeleine, Herr Madeleine Herr Bürgermeister.
Zu Beginn des Jahres 1821 meldeten die Journale den Tod des Bischofs Myriel von Digne, genannt Monsignore Bienvenu, der im Alter von zweiundachtzig Jahren und im Rufe hoher Heiligkeit verschieden war.
Der Bischof war, um diese Einzelheit hinzuzufügen, die von den Zeitungen nicht erwähnt wurde, seit Jahren blind gewesen, aber versöhnt mit diesem Schicksal, da ja seine Schwester bei ihm war.
Sofort nach dem Erscheinen der Todesanzeige im Stadtblatt von Montreuil sur Mer legte Herr Madeleine schwarze Kleider an und schlang einen Trauerflor um seinen Hut.
Man bemerkte es in der Stadt und mutmaßte allerlei. Man glaubte etwas über die Herkunft des Herrn Madeleine erfahren zu haben. Offenbar war er mit dem Bischof verwandt gewesen. Das steigerte sein Ansehen, und selbst in der guten Gesellschaft von Montreuil sur Mer dachte man besser von ihm. Der mutmaßliche Verwandte eines Bischofs war in der kleinen Nachahmung des Faubourg Saint-Germain, die es in jeder französischen Kleinstadt gibt, wohlgelitten. Alte Frauen behandelten ihn mit Auszeichnung, junge lächelten ihm zu. Eines Tages leistete sich die älteste der vornehmen Damen jenes Kreises, die bereits ein Altersrecht auf Neugierde hatte, die Frage:
»Sie sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne, Herr Bürgermeister?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Aber Sie tragen doch Trauer um ihn.«
»Ich stand in meiner Jugend im Dienste seiner Familie.«
Blitze am Horizont
Allmählich erschlaffte aller Widerstand. An seine Stelle trat allgemeine aufrichtige Achtung. Es gab 1821 eine Zeit, in der in Montreuil sur Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« nicht anders ausgesprochen wurden als 1815 die Worte »Seine bischöflichen Gnaden« in Digne.
Ein einziger Mensch in der Stadt entzog sich dieser allgemeinen Gefühlseinstellung und blieb, was auch Vater Madeleine tun mochte, widerspenstig, als ob ein unbestechlicher Instinkt ihn wach und mißtrauisch halte. Es scheint, als ob in gewissen Menschen ein geradezu tierischer Trieb sich geltend macht, der Antipathien und Sympathien hervorbringt und schicksalhaft den einen vom andern trennt, der zwei Spielarten des Typus Mensch gegeneinander scheidet wie Hund und Katze, Fuchs und Löwe.
Wenn Herr Madeleine ruhig, leutselig und von allen achtungsvoll begrüßt, die Straßen durchschritt, geschah es oft, daß ein hochgewachsener Mann in einem eisgrauen Ridingcoat, mit einem dicken Spazierstock und einem breitkrempigen Hut, sich jäh hinter ihm umdrehte, ihm mit den Augen folgte, bis er um eine Ecke gebogen war, die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die Oberlippe fast bis zur Nase hochschob, als ob er sagen wollte: wer das nur sein mag! Den habe ich schon einmal in meinem Leben gesehen. Auf jeden Fall lasse ich mir von ihm nichts vormachen.
Dieser Mann mit seinem fast drohend-ernsten Gesicht war einer von jenen, die selbst auf einen flüchtigen Blick hin auffallen.
Er hieß Javert und war Polizist.
In Montreuil sur Mer versah er den peinlichen, aber nützlichen Dienst eines Inspektors. Den Anfängen von Madeleines Aufstieg hatte er nicht beigewohnt. Denn Javert verdankte seinen Posten der Protektion des Herrn Chabouillet, Sekretärs des Staatsministers Graf Anglês. Als Javert nach Montreuil sur Mer kam, hatte der Fabrikant bereits den Grundstein zu seinem Vermögen gelegt, und Vater Madeleine war schon Herr Madeleine geworden.
Javert war im Gefängnis geboren; seine Mutter war eine Kartenlegerin, deren Gatte damals auf den Galeeren saß. Als er herangewachsen war, begriff er, daß er gewissermaßen außerhalb der menschlichen Gesellschaft stand und niemals in sie eindringen werde. Er gewahrte, daß die Gesellschaft zwei Klassen von Menschen streng von sich fernhält, nämlich ihre Feinde und ihre Verteidiger; zwischen diesen beiden Klassen hatte er die Wahl. Zugleich aber fühlte er in sich eine Neigung zu Strenge, Regelmäßigkeit und Rechtschaffenheit, die noch durch seinen Haß gegen das Zigeunergesindel bestärkt wurde, dem er entstammte. Also wurde er Polizist. Er hatte Erfolg, und mit vierzig Jahren war er Inspektor.
In seiner Jugend hatte er in den Kerkern des Südens Dienst getan.
Er hatte eine Stumpfnase mit zwei breiten Flügeln, zu denen die Spitzen seines gewaltigen Schnurrbarts aufstiegen. Wer zum erstenmal dieses Haargestrüpp und diese Nasenhöhlen sah, konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Wenn Javert lachte, was selten genug geschah und fürchterlich wirkte, lösten sich seine dünnen Lippen voneinander und ließen nicht nur die Zähne, sondern auch das Zahnfleisch sehen; sein Schädel war klein, das Kinn stark vorgebaut, die Haare wuchsen über die Stirn bis zu den Brauen herab.
Den Charakter dieses Menschen bestimmten zwei höchst einfache und verhältnismäßig gute Empfindungen, die er indessen übertrieb und beinahe in schlechte verzerrte: Respekt vor der Obrigkeit und Haß gegen jede Rebellion. In seinen Augen war Diebstahl, Mord, jedes Verbrechen überhaupt nur eine Form der Rebellion. Wer indessen ein Staatsamt bekleidete, vom Premierminister bis zum Flurhüter herab, dem hing er in einer fast blinden, tiefen Verehrung an. Dagegen empfand er die tiefste Verachtung und Abneigung gegen jedermann, der auch nur ein einziges Mal die Schwelle des Erlaubten überschritten hatte. Das war für ihn eine Regel, die keine Ausnahmen zuließ. Sein erstes Dogma war: Der Beamte kann nicht irren. Die Behörde hat immer recht. Sein zweites: Die Verdorbenen sind unwiderruflich verloren. Von ihnen kann nichts Gutes mehr kommen.
Kurz, er war ein Anhänger jener überspitzten Denker, die dem Menschengesetz die mystische Macht zuerkennen, etwas zu bewirken, was es doch nur festzustellen vermag. Er war Stoiker, düsterer Träumer, demütig und hochmütig zugleich, wie alle Fanatiker. Sein Blick war kalt und stechend wie ein Bohrer. Sein Leitspruch: Wachen, überwachen! Er war fest überzeugt von der Nützlichkeit seines Wirkens, von der religiösen Heiligkeit seiner Amtsverrichtungen, fühlte sich, obwohl er nur ein Spitzel war, als Priester. Wehe dem, der ihm in die Hände fiel! Er hätte seinen Vater verhaftet, wenn er ihn auf der Flucht von den Galeeren ertappt, seine Mutter verraten, wenn er sie dabei erwischt hätte, wie sie sich der Polizeikontrolle zu entziehen suchte. Und er hätte es getan mit jener inneren Befriedigung, die nur die Tugend verleiht. Und dabei war er ein Mann, der seine Pflicht blutig ernst nahm, ein Mann der Selbstbescheidung, Selbstverleugnung, Zucht und Strenge. Die Fleisch gewordene Pflichterfüllung, Polizei, wie die Spartaner sie sich gedacht hatten.
In seinen seltenen Mußestunden las er, obwohl er nicht gerade ein Freund der Bücher war; so kam es, daß er nicht jeglicher Bildung ermangelte.
Laster kannte er nicht. Wenn er mit sich selbst zufrieden war, bewilligte er sich eine Prise Tabak. Das war die einzige Schwäche, die ihn menschenähnlich machte.
Man wird unschwer begreifen, daß Javert der Schrecken aller jener Leute war, die im statistischen Jahresbericht des Justizministeriums in der Rubrik »ohne festen Aufenthaltsort« geführt werden. Allein schon Javerts Name brachte sie aus der Fassung; tauchte er auf, so erstarrten sie zu Stein.
Das war der Mann. Das war Javert, der ein Auge auf Herrn Madeleine hatte, ein argwöhnisches, mißtrauisches Auge. Herr Madeleine hatte es wohl gemerkt, doch schien er nicht darauf zu achten. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht, wie er ihn auch nicht mied, ertrug diesen peinlichen Blick, ohne sich darum zu kümmern. Er behandelte Javert wie alle anderen Menschen, unbefangen und gütig.