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Aus einigen Äußerungen, die Javert entschlüpften, konnte man erfahren, daß er heimlich mit der angeborenen Neugierde seines Menschenschlags nach der Herkunft Herrn Madeleines forschte. Er schien zu wissen und ließ es sogar durchblicken, irgend jemand habe irgendwo über eine verschollene Familie Nachforschungen angestellt. Einmal sagte er im Selbstgespräch ganz laut:

»Ich hab’s!«

Dann war er drei Tage lang versonnen und schweigsam geblieben. Offenbar war ihm der Faden, den er bereits in Händen hielt, wieder abgerissen.

Einmal aber schien Javerts seltsames Fragen auch auf Herrn Madeleine Eindruck zu machen. Und das geschah bei folgender Gelegenheit.

Vater Fauchelevent

Eines Morgens durchschritt Herr Madeleine eine ungepflasterte Straße von Montreuil sur Mer. Er hörte Lärm und bemerkte eine Ansammlung von Menschen. Er trat näher und sah, daß ein alter Mann, der Vater Fauchelevent genannt wurde, unter einen Wagen gestürzt war, nachdem sein Pferd die Fuhre umgeworfen hatte.

Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Herr Madeleine damals noch hatte. Als Madeleine in die Stadt gekommen war, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Amtsschreiber, einen Handel, der schlecht zu gehen begann. So hatte Fauchelevent sehen müssen, wie ein einfacher Arbeiter reich wurde, während er, der diplomiert war, herunterkam. Das hatte ihn neidisch gestimmt, und seither nahm er jede Gelegenheit wahr, um Madeleine zu schaden. Als er bankrott machte, blieb ihm nur ein Pferd und ein Wagen, und so mußte er, da er ohne Familie und Kinder war, als Fuhrmann sein Brot suchen.

Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte sich nicht mehr erheben. Der Alte war zwischen die Räder geklemmt und lag so unglücklich, daß die ganze schwere Fuhre auf seiner Brust lastete. Und der Wagen war schwer beladen. Vater Fauchelevent stöhnte jämmerlich. Man hatte versucht, ihn herauszuziehen, aber vergebens. Ein falsch angesetzter Stoß, eine ungeschickte Hilfeleistung konnten ihn ums Leben bringen. Man konnte ihn aus seiner gefahrvollen Lage nur befreien, indem man den Wagen hochhob. Javert, der im Augenblick des Unglücksfalles zur Stelle gewesen war, hatte um eine Winde geschickt.

Als Madeleine näher trat, wurde ihm respektvoll Platz gemacht.

»Ist denn keine Winde zur Hand?« fragte er.

»Man hat bereits um eine gesandt«, erwiderte ein Bauer.

»Wann wird sie kommen?«

»Es ist nicht weit, aber eine Viertelstunde wird es wohl dauern.«

»Unmöglich, eine Viertelstunde!« rief Madeleine.

Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, und das umgeworfene Gefährt sank von Augenblick zu Augenblick tiefer ein, so daß die Brust des alten Fuhrmanns immer schwerer belastet wurde. Es konnte keine fünf Minuten mehr dauern, bis seine Rippen zerschmettert waren.

»Wir können unmöglich noch eine Viertelstunde warten«, sagte Madeleine zu den Bauern, die ihn nicht aus den Augen ließen.

»Es wird nichts anderes übrigbleiben.«

»Seht ihr denn nicht, daß der Wagen einsinkt?«

»Weiß Gott, allerdings …«

»Hört«, sagte Madeleine, »es ist noch genug Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hineinschlüpfen und das Gefährt mit dem Rücken hochheben kann. Er braucht es nur eine halbe Minute zu halten, inzwischen wird der arme Mensch herausgezogen. Ist unter euch einer, der Muskel und ein Herz hat? Ich setze fünf Louisdor aus.«

Niemand rührte sich.

»Zehn Louisdor«, sagte Madeleine.

Alle blickten zu Boden. Einer murmelte:

»Dazu gehörte ja eine Teufelskraft. Und man riskiert, zu Brei zerquetscht zu werden.«

»Vorwärts«, rief Madeleine, »zwanzig Louis!«

Wieder schwiegen alle.

»An gutem Willen fehlt es nicht«, sagte eine Stimme.

Madeleine wandte sich um und erkannte Javert. Dieser fuhr fort:

»Es gehörte ein Riesenkerl dazu, einen solchen Wagen mit dem Rücken hochzuheben.«

Mit einem scharfen Blick auf Madeleine sagte er:

»Ich habe nur einen einzigen Menschen gekannt, Herr Madeleine, der zustande gebracht hätte, was Sie da verlangen. Es war ein Galeerensträfling.«

»Oh«, sagte Madeleine.

»Im Bagno, in Toulon.«

Madeleine erblaßte.

Inzwischen fuhr der Wagen fort, langsam zu sinken. Vater Fauchelevent keuchte und stöhnte.

»Ich ersticke! Das bricht mir alle Rippen entzwei!«

Wieder blickte Madeleine ringsum.

»Ist keiner da, der zwanzig Louis verdienen und dem armen Alten das Leben retten möchte?«

Wieder rührte sich niemand. Javert aber sagte:

»Ich kannte nur einen einzigen Menschen, der eine Winde ersetzten konnte – eben jenen Galeerensträfling!«

»Es erdrückt mich!« jammerte der Alte.

Madeleine blickte auf, begegnete dem Falkenauge Javerts, sah die Bauern unbeweglich stehen und lächelte traurig. Dann kniete er wortlos nieder, und bevor noch jemand einen Schrei ausstoßen konnte, war er unter dem Wagen.

Ein Augenblick bangen Schweigens folgte.

Man sah Madeleine, der fast flach auf dem Bauch lag und sich unter dem furchtbaren Gewicht zweimal vergeblich plagte, die Ellbogen den Knien zu nähern. »Vater Madeleine, lassen Sie ab davon!« wurde gerufen. Sogar der alte Fauchelevent warnte ihn. »Herr Madeleine«, sagte er, »tun Sie es nicht; wenn ich sterben muß, dann soll es geschehen, ich will nicht, daß Sie sich auch zerschmettern lassen.«

Madeleine antwortete nicht. Die Umstehenden keuchten. Die Räder waren schon so tief eingesunken, daß Madeleine kaum mehr unter dem Wagen hervorkonnte.

Plötzlich ging ein Zittern durch die gewaltige Masse der Ladung, langsam wurde der Wagen gehoben, und die Räder lösten sich halb vom Boden. Eine stöhnende Stimme rief: »Macht rasch!« Und alle stürzten herzu. Die Hingabe des einen hatte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

Madeleine stand auf. Er war blaß und schweißüberströmt. Seine Kleider waren zerfetzt und kotbedeckt. Alle waren zu Tränen gerührt. Der Greis umfing seine Knie und nannte ihn seinen lieben Gott. In Madeleines Antlitz war ein Ausdruck von himmlischem, beseligtem Weh, während er ruhig Javerts Blick erwiderte.

Fauchelevent wird Gärtner in Paris

Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturz das eine Bein verrenkt. Vater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, das er in dem Fabrikgebäude für seine Arbeiter eingerichtet hatte und in dem zwei barmherzige Schwestern beschäftigt waren. Am nächsten Morgen fand der Alte einen Tausendfrankenschein auf seinem Nachtschrank und dabei einen Zettel, auf den Madeleine geschrieben hatte:

»Ich kaufe Ihren Wagen und Ihr Pferd.«

Der Wagen war zerbrochen, das Pferd tot. Fauchelevent wurde gesund, eins seiner Beine aber blieb gelähmt. Madeleine verschaffte ihm durch Vermittlung der barmherzigen Schwestern und des Pfarrers eine Anstellung als Gärtner im Nonnenkloster zu Saint-Antoine in Paris.

Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeister. Als Javert ihm zum erstenmal mit der Schärpe, die seine Würde kennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zusammen wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Seither mied er es nach Möglichkeit, ihm zu begegnen. Wenn ihn seine dienstlichen Obliegenheiten zwangen, beim Bürgermeister vorzusprechen, so benahm er sich ehrfurchtsvoll.

So lagen die Verhältnisse, als Fantine in ihre Heimatstadt zurückkehrte. Niemand erkannte sie wieder. Das Tor der Madeleineschen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie meldete sich und wurde in die Werkstätte der Frauen aufgenommen. Die Arbeit war Fantine neu, sie ging ihr nicht leicht von der Hand, und darum verdiente sie nicht allzuviel, aber genug, um ihr Leben zu fristen.