Frau Victurnien gibt fünfunddreißig Franken für die Moral aus
Als Fantine sah, daß sie auskommen konnte, war sie glücklich. Die Lust zur Arbeit erwachte. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich zu sehen, daß sie jung war, daß ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne gefallen konnten, vergaß vieles, dachte nur mehr an ihre Cosette und an die Zukunft; es fehlte nicht viel, und sie war glücklich. Sie mietete ein kleines Zimmer und kaufte auf Kredit Möbeclass="underline" Rückfall in unordentliche alte Angewöhnungen.
Da sie nicht sagen konnte, sie sei verheiratet, hatte sie sich wohl gehütet, von ihrem Töchterchen zu sprechen. Doch zahlte sie wenigstens zu Anfang pünktlich ihre Schuld an Thénardier. Da sie nicht schreiben konnte, mußte sie sich eines öffentlichen Schreibers bedienen. Sie schrieb oft, und das fiel auf. In den Werkstätten der Frauen wurde geflüstert, Fantine schreibe Briefe und sie wolle sich wohl groß aufspielen.
Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die sie um ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte.
Sie brachten heraus, daß sie mindestens zweimal monatlich immer an die gleiche Adresse schrieb. Es gelang ihnen, diese Adresse zu erfahren. Sie lautete: Herrn Thénardier, Wirt in Montfermeil.
Man ermittelte auch den Schreiber, und da der alte Biedermann einer Flasche Rotwein nicht widerstehen konnte, erfuhr man, daß Fantine ein Kind hatte.
»Also so eine war sie!«
Es fand sich sogar eine Frau, die eine Reise nach Montfermeil nicht scheute und mit Thénardier sprach. Als sie zurückkam, sagte sie:
»Es hat mich fünfunddreißig Franken gekostet, aber jetzt bin ich im Bilde. Ich habe das Kind gesehen.«
Diese Frau war eine alte Hexe, eine gewisse Victurnien, die Tugendwächterin aller Welt. Sie zählte sechsundfünfzig Jahre, und die Maske des Alters trat zurück hinter der der Häßlichkeit. Sie meckerte, und ihr Verstand war schrullig. Auch sie war, kaum zu glauben, einmal jung gewesen. Damals, Anno 93, hatte sie einen entlaufenen Bernhardiner geheiratet, der die rote Mütze genommen und zu den Jakobinern übergegangen war. Sie war vertrocknet, boshaft, tückisch, ihr Mönch, dessen Witwe sie bereits war, hatte sie gehörig gezähmt und gemeistert. Unter der Restauration kehrte sie in den Schoß der Kirche zurück, und sie tat es so voll und ganz, daß die Priester ihr ihren Mönch verziehen. Ihre kleine Habe hatte sie, nicht ohne großes Aufheben davon zu machen, einer frommen Gemeinde gestiftet. Im Bischofspalais zu Arras war sie gern gesehen. Das war die Frau, die in Montfermeil gewesen war und sagen konnte: Ich habe das Kind gesehen.
Alles das nahm Zeit in Anspruch. Fantine war seit mehr als einem Jahr in der Fabrik, als eines Morgens die Aufseherin der Frauenwerkstätte ihr von dem Herrn Bürgermeister fünfzig Franken überbrachte und bestellte, sie solle sich hier nicht mehr blicken lassen; und der Herr Bürgermeister lasse ihr sagen, sie solle am besten anderswohin ziehen.
Das geschah genau damals, als Thénardier seine Forderung neuerlich erhöhte und fünfzehn Franken monatlich verlangte. Fantine war niedergeschmettert. Sie konnte Montreuil sur Mer nicht verlassen, denn sie war mit der Miete im Rückstand und hatte ihre Möbel noch nicht bezahlt. Fünfzig Franken reichten nicht aus, um diese Schulden abzugelten. Sie stammelte einige flehentliche Worte, aber die Aufseherin bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Fantine war ja auch nur eine mittelmäßige Arbeiterin. Von Schmach und Verzweiflung niedergedrückt, verließ sie die Fabrik und ging nach Hause. Offenbar wußten jetzt alle von ihrer Schande!
Man empfahl ihr, sich an den Herrn Bürgermeister zu wenden, aber sie wagte es nicht. Er hatte ihr fünfzig Franken gegeben, weil er gut war, und er jagte sie aus dem Dienst, weil er gerecht war …
Erfolge der Frau Victurnien
Die Witwe des Mönchs hatte ihre Sache also gut gemacht.
Übrigens ahnte Madeleine nichts. So verknüpfen sich die Umstände. Es war nicht seine Gewohnheit, in die Frauenwerkstätte zu gehen. Er hatte die Leitung dieses Betriebes einem alten Fräulein anvertraut, das der Pfarrer ihm empfohlen hatte, und er hatte alles Vertrauen zu dieser wachsamen, wahrhaft ehrenwerten, gerechten Frau, die sogar zu geben verstand, aber das Mitleid nicht so weit trieb, zu verstehen und zu verzeihen. Ihr überließ Madeleine die Leitung der Werkstätte. Auch die besten Menschen sind zuweilen gezwungen, sich eines Teils ihrer Obliegenheiten zu entledigen. Aus eigener Machtvollkommenheit hatte die Aufseherin den Prozeß geführt, das Urteil gefällt und Fantine ihm unterworfen.
Was die fünfzig Franken betraf, so hatte sie sie aus einer Kasse entnommen, die Herr Madeleine ihr zur Unterstützung bedürftiger Arbeiterinnen anvertraut hatte und über die sie nicht Rechenschaft abzulegen brauchte.
Zunächst suchte Fantine in Dienst zu treten; sie ging von Haus zu Haus, aber niemand wollte sie nehmen. Fortziehen hatte sie nicht können. Der Möbelhändler, dem sie ihre Einrichtung – welch eine jämmerliche Einrichtung! – schuldete, hatte gesagt: »Wenn Sie fortgehen, lasse ich Sie als Diebin verhaften.« Der Hauswirt, dem sie noch Miete schuldete, hatte gesagt: »Sie sind jung und hübsch, Sie können zahlen.« So teilte sie die fünfzig Franken unter den Wirt und den Möbelhändler, gab Dreiviertel ihrer Einrichtung zurück, behielt nur das Allernötigste und fand sich ohne Arbeit, ohne Stellung und mit ungefähr hundert Franken Schulden wieder.
Sie begann grobe Soldatenhemden zu nähen und verdiente damit zwölf Sous täglich. Ihre Tochter kostete sie zehn. Damals begann sie mit ihren Zahlungen an Thénardier in Verzug zu geraten. Doch lehrte eine alte Frau, die ihr abends die Kerze anzündete, sie die Kunst des Lebens im Elend. Denn wenn man auch mit wenig gelebt hat, so gibt es auch noch eine Steigerung – mit nichts auskommen.
Fantine lernte, wie man einen Winter ohne Heizung durchhält, wie man einen Vogel los wird, der in seiner unergründlichen Freßgier alle zwei Tage für einen Heller Futter braucht, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benützt, wie man an der Kerze spart, indem man seine Mahlzeit im Licht des hellerleuchteten Fensters von gegenüber einnimmt.
Es wurde ein wahres Talent daraus. Fantine faßte sogar wieder ein wenig Mut.
Anfänglich hatte Fantine kaum gewagt, auszugehen. Sobald sie die Straße betrat, fühlte sie, daß die Leute sich nach ihr umwandten und mit dem Finger auf sie zeigten. Alle Welt sah sie an, niemand grüßte. Diese rohe Mißachtung schnitt ihr ins Fleisch und fiel wie ein eisiger Wind in ihre Seele. In den Kleinstädten ist, scheint es, eine Unglückliche nackt und wehrlos gegen den Hohn und die Neugierde aller. In Paris bleibt man unbekannt, da ist die Dunkelheit wie ein schützendes Kleid. Wie sehr sehnte sie sich danach, wieder in Paris zu sein. Aber unmöglich …
Also mußte sie sich an die Verachtung gewöhnen, wie sie sich an die Not gewöhnte. Allmählich richtete sie sich ein. Nach zwei oder drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als ob nichts gewesen wäre. So sah Frau Victurnien sie bisweilen vom Fenster aus, aufrecht einherschreitend, mit einem bitteren Lächeln um die Lippen, überzeugte sich von dem Elend dieser Person, die sie »in ihre Schranken gewiesen hatte«, und war stolz.
Das Übermaß der Arbeit erschöpfte Fantine; der leichte, trockene Husten wurde schlimmer. Manchmal sagte sie zu ihrer Nachbarin Marguerite:
»Fühlen Sie doch, wie meine Hände warm sind!«
Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochenen Kamm ihre schönen Haare strählte, die wie Seide knisterten, empfand sie einen Augenblick beseligter Eitelkeit.
Sie war gegen Ende des Winters entlassen worden; ein Sommer verging, und wieder ward es Winter. Kurze Tage, weniger Arbeit. Winter, Kälte, kein Licht, von Morgen bis Abend nur eine kurze Spanne Zeit, draußen Nebel, Dämmerung, zugefrorene Fenster …