Und ihre Gläubiger quälten sie. Sie verdiente sehr wenig. Ihre Schulden wuchsen an. Die Thénardiers waren nicht die Leute, um Außenstände zu dulden; sie schrieben Briefe, die Fantine tief betrübten; allein das Porto erschöpfte ihre geringe Barschaft. Eines Tages schrieben sie ihr, die kleine Cosette sei trotz der Kälte fast nackt, sie brauche dringend eine Wolljacke, und dazu wären mindestens zehn Franken nötig. Fantine empfing diesen Brief und trug ihn einen ganzen Tag lang in der Hand. Am Abend endlich ging sie zu einem Barbier und zog ihren Kamm aus der Frisur. Die herrlichen, blonden Haare fielen ihr bis über die Hüften herab.
»Was würden Sie dafür geben?« fragte sie.
»Zehn Franken.«
»Schneiden Sie sie ab.«
Sie kaufte ein Wolljäckchen und sandte es den Thénardiers, die darüber in arge Wut gerieten, denn sie hatten es auf das Geld abgesehen. Das Jäckchen gaben sie Eponine, und die arme Lerche mußte weiter frieren.
Fantine dachte: mein Kind friert nicht mehr. Ich habe es mit meinen Haaren bekleidet. Sie trug jetzt ein kleines Häubchen, das ihren geschorenen Kopf verhüllte und ihr recht gut stand.
Inzwischen vollzog sich in Fantines Herz eine düstere Wandlung. Sie begann zu hassen. Lange Zeit hatte sie die Verehrung aller für Vater Madeleine geteilt. Jetzt aber bedachte sie, daß er es doch war, der sie fortgejagt hatte, daß er ihr Unglück verursacht hatte, und sie begann ihn mit einem ganz besonderen Haß zu verfolgen. Wenn sie an der Fabrik vorbeikam, zu einer Zeit, da die Arbeiter an der Tür standen, lachte und sang sie auffällig.
»Das wird kein gutes Ende nehmen«, sagte eine alte Arbeiterin einmal.
Sie nahm sich einen Liebhaber, den ersten besten, der ihr über den Weg lief, einen Mann, den sie nicht liebte, nur aus Wut. Es war ein elender Kerl, eine Art Bettelmusikant, ein Nichtstuer, der sie schlug und den sie verließ, wie sie ihn genommen hatte, mit Abscheu. Ihr Kind liebte sie immer noch. Der Husten wurde nicht besser, oft hatte sie Schweißausbrüche auf dem Rücken.
Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief, der folgendermaßen lautete: Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier umgeht. Die Leute nennen sie Frieselfieber. Sie muß teure Medikamente bekommen. Wir haben kein Geld, können nichts auslegen. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig Franken schicken, ist die Kleine tot.
Sie begann wild zu lachen, dann sagte sie zu der Nachbarin:
»Die sind gut! Vierzig Franken! Zwei Napoléons! Wo soll ich die nur hernehmen! Blöd sind diese Bauersleute.«
Sie lief auf die Straße, tanzend und lachend. Jemand begegnete ihr und fragte: »Was haben Sie nur, daß Sie so lustig sind?«
»Mir haben Leute vom Land eine rechte Dummheit geschrieben. Vierzig Franken wollen sie von mir. Dumme Bauern das!«
Als sie über den Platz ging, sah sie eine Menschenmenge, die einen seltsamen Wagen umstand, auf dem ein rotgekleideter Mann eine Rede hielt. Es war ein Zahnarzt, der dem Publikum Gebisse, schmerzstillende Mittel und Elixiere anbot.
Fantine mischte sich unter die Leute und begann mit den andern über das Geschwätz des Kurpfuschers zu lachen, der die Sprache des gemeinen Pöbels mit der der Leute von Stand zu einem seltsamen Kauderwelsch verband. Der Zahnreißer sah das lachende Mädchen und rief plötzlich:
»Sie haben hübsche Zähne, Sie Kleine da unten! Wenn Sie mir Ihre beiden Schneidezähne geben, zahle ich Ihnen für jeden einen Napoléon.«
»Was sind Schneidezähne?« fragte Fantine.
»Die beiden vordersten oben«, erwiderte der Zahnarzt.
»Um Gottes willen!« rief Fantine.
»Zwei Napoléon«, murrte eine zahnlose Alte neben ihr, »die hat ein Glück!«
Fantine lief davon und hielt sich beide Ohren zu, um nicht die heisere Stimme des Mannes zu hören, der ihr nachrief:
»Überlegen Sie sich’s, meine Schöne, zwei Napoléons sind kein Scherz! Wenn Sie doch noch Lust kriegen, kommen Sie zum ›Silbernen Kreuzer‹, dort finden Sie mich.«
Fantine kehrte nach Hause zurück. Zu Marguerite, die neben ihr arbeitete, sagte sie:
»Was ist das eigentlich, Frieselfieber?«
»Nun, eine Krankheit.«
»Braucht man da viel Medikamente?«
»Schrecklich viel Medikamente.«
»Und das kriegen auch Kinder?«
»Kinder besonders.«
»Kann man daran sterben?«
»Ganz leicht«, meinte Marguerite.
Am Abend ging sie in die Pariser Straße, in der die Herbergen sind.
Als Marguerite am nächsten Morgen vor Tagesanbruch – die beiden arbeiteten zusammen bei einer gemeinsamen Kerze – in Fantines Zimmer trat, fand sie das Mädchen blaß und kälteschauernd auf ihrem Bett sitzen. Die Haube war auf die Knie herabgefallen. Sie hatte nicht geschlafen. Die Kerze hatte die ganze Nacht gebrannt und war fast ganz verbraucht.
»Großer Gott«, rief Marguerite verblüfft, »die ganze Kerze ist verbrannt! Was ist denn los?«
Dann sah sie Fantine, die ihr den kurzgeschnittenen Kopf zuwandte. Sie war um zehn Jahre gealtert.
»Jesus!« rief Marguerite, »was haben Sie nur, Fantine?«
»Nichts«, sagte Fantine, »gar nichts. Mein Kind wird nicht an dieser schrecklichen Krankheit sterben.«
Und sie wies auf die beiden Napoléons, die auf dem Tisch lagen.
»Großer Gott!« sagte Marguerite, »ein Vermögen! Woher haben Sie das Geld?«
»Ich habe es bekommen.«
Sie lächelte. Das Kerzenlicht erhellte ihr Gesicht. Ein blutiges Lächeln. Rötlicher Speichel benetzte ihre Mundwinkel, und in ihrem Mund war ein schwarzes Loch. Zwei Zähne waren herausgerissen.
Vierzig Franken sandte sie nach Montfermeil. Thénardier hatte sich dieses Kniffs bedient, um Geld zu bekommen. Cosette war nicht krank.
Fantine warf ihren Spiegel aus dem Fenster. Sie hatte ihre Scham verloren, jetzt gab sie auch nichts mehr auf ihre äußere Erscheinung, vernachlässigte sich. Sie ging mit schmutzigem Häubchen aus. Aus Mangel an Zeit oder Gleichgültigkeit besserte sie ihre Wäsche nicht aus, flickte ihr altes Mieder mit Kattunlappen, die sich bei der leisesten Bewegung wieder ablösten. Die Leute, denen sie Geld schuldete, machten ihr Szenen und ließen ihr keine Ruhe. Überall, auf der Straße und auf der Treppe ihres Hauses, lauerten sie ihr auf. Sie hatte fieberglänzende Augen und Schmerzen zwischen den Schultern. Sie hustete stark. Sie haßte Vater Madeleine aus ganzem Herzen, aber sie klagte nicht. Sie mußte siebzehn Stunden täglich nähen, denn ein Unternehmer, der in den Strafanstalten arbeiten ließ, drückte die Preise und senkte dadurch den Lohn der freien Arbeiterin auf neun Sous herab. Neun Sous für siebzehn Stunden Arbeit. Und dabei waren die Gläubiger unerbittlicher als je. Der Möbelhändler, der fast seine ganzen Möbel zurückgenommen hatte, verfolgte sie. Thénardier schrieb, er habe aus allzu großer Güte lange genug gewartet, jetzt aber müsse er den aufgelaufenen Schuldbetrag, hundert Franken, sofort bekommen, sonst werde er Cosette, die noch von ihrer eben überstandenen Krankheit schwach wäre, auf die Straße werfen; möge sie krepieren, wenn sie wolle.
»Gut«, sagte sie, »Ausverkauf!«
Und sie wurde Dirne.
Wenn Herr Bamatabois nichts zu tun hat
In allen Kleinstädten, und so auch in Montreuil sur Mer, gibt es eine Sorte junger Leute, die mit fünfzehnhundert Livres Jahresrente in der Provinz ein Leben führen, wie man es in Paris mit zweihunderttausend bestreitet. Leute, Parasiten, die ein wenig Land, ein großes Stück Dummheit und ein kleines Verstand besitzen, in einem guten Salon für Bauernlümmel gelten würden, im Café aber den Edelmann herauskehren. Sie sprechen von »ihren« Wiesen, »ihren« Wäldern, »ihren« Pächtern, pfeifen Schauspielerinnen aus, um sich als Kunstverständige aufzuspielen, zanken sich mit den Offizieren der Garnison herum, um ihren Mut zu beweisen, jagen, rauchen, gähnen, trinken, schnupfen, spielen Billard, starren aus dem Fenster des Cafés, in dem sie leben, auf die Durchreisenden hinaus, die aus der Postkutsche steigen, speisen im Restaurant, halten sich einen Hund, der unter dem Tisch seinen Knochen frißt, und eine Geliebte, hängen an jedem Sou, kleiden sich übertrieben, verachten die Frauen, kopieren London nach Pariser Kopien und Paris nach Kopien aus Pont-à-Mousson, arbeiten nie, taugen zu nichts und schaden auch nicht sonderlich.