Выбрать главу

Weit entfernt davon! Immer war – da in der menschlichen Gesellschaft mehr Elend als Brüderlichkeit herrscht – alles bereits vergeben, bevor es eingegangen; es war mit dem Gelde wie mit einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel auch bekam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er sich selbst.

Es ist Sitte, daß die Bischöfe ihre Taufnamen an die Spitze ihrer Sendschreiben und Hirtenbriefe setzen; mit einem Instinkt der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter allen Vornamen ihres Bischofs den, der ihnen am sinnvollsten schien, und nannten ihn Monsignore Bienvenu – Bischof Willkommen. Ihm gefiel diese Benennung.

»Ich habe diesen Namen gern«, sagte er. »Bienvenu klingt besser als Monsignore.«

Wir wollen nicht behaupten, daß das Bild, das wir hier entworfen haben, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; darum müssen wir uns darauf beschränken, zu versichern, daß es wahrheitsgetreu ist.

Ein guter Bischof hat es nicht leicht

Obwohl der Bischof seine Equipage in Almosen verwandelt hatte, war er oft amtlich auf Reisen. Und die Diözese von Digne ist ein Distrikt, in dem man nicht bequem reist. Es gibt dort wenig Ebene und viel Gebirge, überdies fast keine Straßen, wie schon erwähnt wurde; und dabei umfaßt sie zweiunddreißig Pfarreien, einundvierzig Vikariate und zweihundertfünfundachtzig Filialkirchen. Sie alle im Auge zu behalten, ist keine Kleinigkeit. Aber der Bischof brachte es zustande. Er ging zu Fuß, wenn sein Ziel in der näheren Nachbarschaft lag, fuhr in einem Bauernwägelchen, wenn er auf dem flachen Lande zu tun hatte, ritt auf einem Maultier ins Gebirge. Oft begleiteten ihn die beiden Frauen. Wenn die Reise zu anstrengend war, blieb er allein.

Eines Tages ritt er auf einem Esel in Senez, einer alten Bischofsstadt, ein. Das Geld war besonders knapp, und so hatte er sich kein anderes Transportmittel leisten können. Der Bürgermeister empfing ihn am Tor des Bischofspalais und maß ihn, wie er so von seinem Esel abstieg, mit empörten Blicken. Einige Bürgersleute blieben stehen und lachten.

»Herr Bürgermeister«, sagte der Bischof, »und Sie, meine Herren Bürger, ich verstehe schon, warum Sie empört sind; Sie finden es unverschämt, daß ein armer Geistlicher sich des Reittiers Jesu Christi bedient. Aber seien Sie versichert, ich tat es aus Not, nicht aus Eitelkeit.«

Auch auf seinen Amtsreisen war er immer geduldig und nachsichtig, seine Predigten klangen eher wie Plaudereien. Bei den Haaren herbeigezogene Argumente konnte er nicht ausstehen.

Im Gespräch war er freundlich und heiter. Lachen konnte er wie ein Schuljunge.

Frau Magloire liebte es, ihn »hoher Herr« anzureden. Eines Tages wollte er ein Buch von einem Regal holen, konnte es aber nicht erreichen, da er von kleiner Statur war. »Frau Magloire«, rief er, »bringen Sie mir einen Stuhl! Der hohe Herr reicht nicht bis zu dem Brett da oben.«

Eine entfernte Verwandte, die Gräfin von Lô, ließ sich selten eine Gelegenheit entgehen, vor ihm von den »Hoffnungen« ihrer drei Söhne zu sprechen. Sie hatte mehrere Verwandte, die schon an der Schwelle des Grabes standen und deren Erbe ihren Söhnen zufallen sollte. Der jüngste der drei sollte von seiner Großtante hunderttausend Livres Rente bekommen; der zweite sollte sogar den Herzogstitel seines Onkels erben; der älteste schließlich sollte in die Pairschaft seines Großvaters eintreten. Der Bischof pflegte den unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien einer liebenden Mutter schweigsam zuzuhören. Einmal allerdings war er versonnener als je, während Madame de Lô sich wieder in weitschweifigen Erörterungen all ihrer Hoffnungen erging. Ungeduldig unterbrach sie sich:

»Großer Gott, Vetter, woran denken Sie nur?«

»Mir fällt da«, sagte der Bischof, »ein sonderbarer Ausspruch ein, den ich, wenn ich mich recht erinnere, in den Schriften des heiligen Augustinus gefunden habe: ›Setzet eure Hoffnung in Ihn, der ohne Nachfolger ist.‹«

Bei passender Gelegenheit verstand er es, harmlos zu spotten, aber fast nie war sein Scherz ohne ernsten Sinn. Während der Fastenzeit kam einst ein junger Vikar nach Digne und predigte in der Kathedrale. Er war sehr beredt. Seine Predigt galt der Mildtätigkeit. Er forderte die Reichen auf, den Notleidenden zu Hilfe zu kommen, denn nur so könnten sie der Hölle entgehen, die er ihnen ebenso schauerlich schilderte, wie er das Paradies lieblich und erstrebenswert darstellte. Unter seinen Zuhörern war ein reicher Kaufmann, der sich bereits zur Ruhe gesetzt hatte, ein gewisser Géborand, ein Wucherer, der mit seiner Tuchweberei zwei Millionen verdient hatte. Zeit seines Lebens hatte Géborand keinem Unglücklichen ein Almosen gegeben. Seit jener Predigt aber wurde beobachtet, daß er jeden Sonntag für die alten Bettlerinnen am Tor der Kathedrale einen Sou spendete. Und dabei waren es sechs, die sich in diesen Betrag zu teilen hatten! Der Bischof sah ihn eines Tages, wie er solchermaßen Wohltätigkeit übte, und sagte lächelnd zu seiner Schwester:

»Sieh doch den Herrn Géborand, wie er für einen Sou Paradies kauft.«

Wenn es galt, Spenden einzutreiben, ließ er sich auch durch eine abschlägige Antwort nicht zurückschrecken und fand oft kluge Einwände. Einmal sammelte er in einem Salon für die Armen. Auch der Marquis de Champtercier war zugegen, ein reicher alter Geizhals, der es fertigbrachte, zugleich Ultraroyalist und Ultravoltairianer zu sein. Auch das gibt es. Der Bischof berührte seinen Arm und sagte:

»Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.«

Der Marquis wandte sich um und erwiderte trocken:

»Monsignore, ich habe meine Armen.«

»Gut, geben Sie sie mir.«

Da er in der Provence geboren war, verstand er die Dialekte des Südens gut. Das gefiel den Leuten und trug nicht wenig dazu bei, daß seine Worte bei ihnen galten. Er war in der Hütte und auf der Alm zu Hause. Die erhabensten Dinge vermochte er in die gewöhnlichsten Worte zu kleiden. Er sprach alle Dialekte und drang ein in alle Herzen.

Niemals urteilte er voreilig und ohne die Umstände zu prüfen. Gern sagte er: »Wir wollen sehen, welchen Weg die Sünde genommen hat.«

Sich selbst nannte er scherzhaft einen Exsünder; niemals gab er sich streng oder zog nach Art der Tugendbolde seine Stirn in düstere Falten; offen bekannte er sich zu seinen Fehlern und hielt sich an einen Lehrsatz, den man ungefähr so zusammenfassen konnte:

»Der Mensch ist von Fleisch, darum trägt er seine Last und seine Versuchung immer bei sich. Sie lauert, und er gibt ihr nach.«

Gab es ein allgemeines Entrüstungsgeschrei, so sagte er wohl auch: »Oh, das muß ja eine Sünde sein, die von vielen Leuten begangen wird, daß alle Heuchler so heftig protestieren und ihr Alibi nachweisen.«

Gegen die Frauen und gegen die Armen, auf denen das Unrecht der Gesellschaft am schwersten lastet, war er stets nachsichtig. »Die Sünden der Frauen, der Kinder, der Bedienten, der Schwachen, der Elenden und der Unwissenden«, sagte er, »sind immer die Schuld der Männer, der Eltern, der Brotgeber, der Starken, Reichen und Wissenden.«

Oder: »Man muß die Unwissenden belehren, so gut man kann; die Gesellschaft lädt eine große Schuld auf sich, indem sie den Unterricht nicht unentgeltlich erteilt; sie ist verantwortlich für die Finsternis des Geistes, in der sie die Menschheit verharren läßt. Wenn die Seele in Dunkelheit schmachtet, ist sie der Sünde zugänglich. Nicht der ist schuldig, der die Sünde begeht, sondern der die Finsternis erzeugt hat.«

Eines Tages hörte er in einem Salon von einem Kriminalprozeß sprechen, der damals in Vorbereitung war. Ein Unglücklicher hatte aus Liebe zu einer Frau und dem Kinde, das sie von ihm hatte, falsches Geld gemacht, weil er keinen anderen Ausweg sah, dem Elend zu entgehen. Falschmünzerei wurde zu jener Zeit noch mit dem Tode bestraft. Man hatte die Frau bei ihrem ersten Versuch, das Falschgeld an den Mann zu bringen, verhaftet. Man hielt sie gefangen, aber Beweise konnte man nur gegen sie nicht erbringen. So lag es an ihr, ob sie ihren Liebhaber belasten und durch ein Geständnis dem Tode überliefern wollte oder nicht. Sie leugnete. Man drang in sie. Aber sie beharrte auf ihrer Aussage. Da hatte der königliche Prokurator einen guten Einfall. Er konstruierte eine Untreue des Mannes und verstand es, Bruchstücke aus Briefen von ihm so geschickt zusammenzustellen, daß die Unglückliche glauben mußte, sie habe eine Nebenbuhlerin und würde von jenem Manne betrogen. In der Tat ließ sie sich von ihrer Eifersucht verführen, ihren Liebhaber zu verraten, alles zu gestehen und sogar Beweise zu liefern. Der Mann war verloren. Er sollte demnächst zusammen mit seiner Mitschuldigen in Aix abgeurteilt werden. Man unterhielt sich darüber, und alle rühmten die Geschicklichkeit des Beamten. Indem er die Eifersucht erregt hatte, war es ihm gelungen, den Zorn zu seinem Verbündeten zu machen und die Wahrheit zu erfahren. Er hatte die Rachsucht in den Dienst der Justiz gestellt. Schweigend hörte der Bischof dies alles an. Endlich fragte er: