»Allerdings«, sagte der Bischof, »ich wünsche auch ohne Eskorte zu reisen.«
»Aber was fällt Ihnen ein!« rief der Bürgermeister.
»Doch, ich lehne es ab, mit Gendarmen zu reisen, und ich breche in einer Stunde auf.«
»Sie brechen auf?«
»Allerdings.«
»Und allein?«
»Allein.«
»Monsignore, das werden Sie nicht tun.«
»Ich habe da«, erwiderte der Bischof, »oben in den Bergen eine kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Die Leute dort sind mir gute Freunde. Sanfte, rechtschaffene Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, gehört ihnen eine, und sie flechten sehr hübsche Wollschnüre und spielen auf kleinen Flöten mit sechs Klappen Lieder aus den Bergen. Ich muß ihnen von Zeit zu Zeit etwas von Gott erzählen. Was sollten sie von einem Bischof denken, der sich fürchtet, was sollen sie von mir halten, wenn ich nicht komme?«
»Aber, Monsignore, die Räuber – –?«
»Halt«, sagte der Bischof, »die darf ich auch nicht vergessen. Sie haben recht. Ich könnte ihnen begegnen. Die haben es besonders nötig, daß ich ihnen von Gott spreche.«
»Monsignore, das sind Banditen! Eine Horde Wölfe!«
»Herr Bürgermeister, vielleicht hat Jesus mich über sie zum Hirten eingesetzt. Wer begreift die Vorsehung?«
»Monsignore, sie werden Sie ausrauben.«
»Ich habe ja nichts.«
»Dann werden sie Sie totschlagen.«
»Einen alten Priester, der landein zieht und Gebete murmelt? Wozu?«
»Mein Gott, wenn Sie ihnen begegnen!«
»Ich werde sie um ein Almosen für meine Armen bitten.«
Man mußte ihn gewähren lassen. Nur in Begleitung eines Knaben, der sich ihm als Führer angeboten hatte, machte er sich auf den Weg. Seine Unbeugsamkeit erregte im ganzen Lande großes Aufsehen und gab Anlaß zu schlimmen Befürchtungen.
Weder seine Schwester noch Frau Magloire nahm er mit. Auf einem Maultier ritt er über das Gebirge, begegnete niemand und kam wohlbehalten bei seinen Freunden, den Hirten, an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, predigte, erledigte seine Amtsgeschäfte, gab ihnen nützliche Lehren. Als er abreisen sollte, beschloß er, ein feierliches Tedeum abzuhalten. Er sprach darüber mit dem Pfarrer. Es ergab sich, daß kein bischöfliches Ornat aufzutreiben war. Man konnte ihm ein einfaches Meßgewand, wie es die Landpfarrer benützen, mit verbliebenen Damastverbrämungen und falschen Goldtressen anbieten.
»Nun, Herr Pfarrer«, sagte der Bischof, »kündigen wir unser Tedeum an. Alles wird sich finden.«
»Man fragte ringsum in den Kirchen an, aber alle diese dürftigen Landpfarreien zusammen konnten nicht genug Paramente in ihren Sakristeien aufbringen, um einen Domkantor anständig zu bekleiden.
Während man sich noch den Kopf zerbrach, wie diesem Mangel abzuhelfen wäre, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder davonmachten, eine mächtige Truhe in das Pfarrhaus gebracht und für den Herrn Bischof abgegeben. Man öffnete sie und fand darin einen Chorrock aus goldgewirktem Tuch, eine diamantenbesetzte Mitra, das Kreuz eines Erzbischofs, einen prunkvollen Krummstab, kurz, alle die bischöflichen Gewänder, die einen Monat vorher aus der Schatzkammer von Notre Dame zu Embrun geraubt worden waren. In der Truhe lag ein Zettel, auf dem geschrieben stand:
»Dies sendet Cravatte dem Bischof Bienvenu.«
»Habe ich nicht gesagt, daß sich alles finden wird!« rief der Bischof. Und lächelnd fügte er hinzu: »Wer sich mit dem Pfarrerrock begnügt, dem sendet Gott das Ornat eines Erzbischofs.«
Neues Licht
Einige Zeit später tat der Bischof etwas, worüber die ganze Stadt noch mehr in Erstaunen geriet als über die Reise durch das Gebiet der Banditen.
In der Umgebung von Digne führte ein Mann ein einsames Leben. Dieser Mensch, um das Furchtbare kurz herauszusagen, war ein ehemaliges Mitglied des Konvents. Er hieß G. Von dem Konventsmitglied G. sprach man in der kleinen Welt, die Digne hieß, nur mit Abscheu. Ein Mitglied des Konvents! – Wer hielte das für möglich?! Das hatte es zur Zeit gegeben, als jeder den andern duzte und Bürger nannte. Dieser Mensch war fast ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht gefehlt! Fast ein Königsmörder! Es war schrecklich. Warum hatte man ihn nicht nach der Rückkehr der angestammten Familie vor das Profosengericht gestellt? Man hätte ihn ja nicht aufs Schafott bringen müssen, um jeden Preis, man hätte Milde walten lassen können, gut, aber eine anständige Verbannung auf Lebensdauer war doch das mindeste, was man verlangen durfte. Man hätte schließlich ein Exempel statuieren sollen! Überdies war dieser Mensch noch dazu ein Atheist, wie sich das ja bei seinesgleichen von selbst versteht.
Gänsegeschnatter über einen Geier.
War übrigens dieser G. ein Geier? Ja, wenigstens nach der Wildheit zu schließen, mit der er sich in der Einsamkeit vergrub. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, war er ja von den Verbannungsdekreten nicht betroffen und durfte sich in Frankreich aufhalten.
Er wohnte drei viertel Stunden von der Stadt entfernt, abseits von jeder menschlichen Siedlung, fern von allen Wegen, in einem versteckten Winkel eines einsamen Tales. Dort hatte er, wie es hieß, ein Stück Acker, eine Höhle – einen Zufluchtsort. Keine Nachbarn; nicht einmal, daß jemand dort vorüberkam. Seit er in jenem Tal wohnte, war das Gras über den Pfad gewachsen. Man sprach von jenem Ort wie vom Hause des Henkers.
Der Bischof jedoch dachte an den Mann, sah von Zeit zu Zeit hinab in jenes Tal und ließ seinen Blick auf der Baumgruppe verweilen, die am fernen Horizont das Haus des alten Konventsmitgliedes bezeichnete. Dort ist eine Seele, dachte er, die einsam ist.
Ich schulde ihm einen Besuch, empfand er.
Doch wollen wir es offen einbekennen, dieser Gedanke schien ihm, so natürlich er auch im ersten Augenblick war, nach kurzer Überlegung seltsam und unmöglich, ja widerwärtig. Im Grunde genommen teilte er die allgemeine Meinung, und das Konventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich dessen klar bewußt war, ein Gefühl ein, das an der Grenze des Hasses liegt.
Indessen, darf die Räude des Schafes den Hirten zurückscheuchen? Nein. Aber welch ein Schaf war das nun!
Der gute Bischof befand sich in einer schwierigen Lage. Manchmal machte er sich auf den Weg, um dorthin zu gehen, kam aber unverrichteterdinge wieder zurück.
Eines Tages hieß es in der Stadt, ein junger Hirt, der dem alten G. diente, sei um einen Arzt gekommen; der alte Schuft sterbe, er sei bereits gelähmt und werde die Nacht nicht überleben.
Gott sei Dank, meinten manche.
Der Bischof nahm seinen Stock, schlüpfte in den Mantel, denn seine Soutane war bereits allzu schäbig, oder auch, um sich nicht dem kalten Abendwind auszusetzen, und machte sich auf den Weg.
Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Bischof den fluchbeladenen Ort erreichte. Nicht ohne Herzklopfen sah er sich endlich der Hütte gegenüberstehen. Er überquerte einen Graben, stieg über eine Hecke, gelangte durch einen Vorgarten an einen Platz, von dem aus er zwischen hohem Gesträuch die Behausung erkannte. Es war eine niedrige, einfache, saubere Hütte mit einer vergitterten Fassade. Vor der Tür saß in einem Rollstuhl, wie ihn die Landleute gebrauchen, ein Mann mit weißen Haaren, der der Sonne zulächelte. Neben ihm stand ein junger Bursche, wohl jener Hirt, und reichte ihm eine Schale Milch.
Während der Blick des Bischofs auf ihm ruhte, wandte sich der Greis an den Knaben.
»Danke«, sagte er, »ich brauche nichts mehr.« Sein freundlicher Blick hatte sich von der Sonne gelöst und ruhte jetzt auf dem Burschen.
Der Bischof trat näher. Das Geräusch seiner Schritte veranlaßte den Greis, sich umzuwenden, und sein Gesicht zeigte alle Verwunderung, die man nach einem langen Leben noch zu empfinden vermag.