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»Seit ich hier bin«, sagte er, »ist dies das erstemal, daß man zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich heiße Bienvenu Myriel.«

»Bienvenu Myriel. Diesen Namen habe ich gehört. Sind Sie der, den das Volk Bischof Bienvenu nennt?«

»Derselbe.«

Der Greis lächelte leise.

»Demnach sind Sie mein Bischof?«

»In gewissem Sinne …«

»Treten Sie ein, mein Herr.«

Das Konventsmitglied bot dem Bischof die Hand, aber der nahm sie nicht. Er sagte nur:

»Ich freue mich zu sehn, daß man mich falsch unterrichtet hat. Sie scheinen mir nicht krank zu sein.«

»Ich werde bald ganz gesund sein«, erwiderte der Greis. Und nach einer Pause: »In drei Stunden sterbe ich. Ich verstehe mich ein wenig auf Medizin. Ich weiß, wie der Tod sich vorbereitet. Gestern waren nur die Füße kalt, heute ist die Kälte bis zu den Knien hinaufgestiegen; jetzt fühle ich, wie sie langsam zum Leib hinansteigt. Sobald sie das Herz erreicht, wird es mit mir aus sein. Schönes Wetter heute, ja? Ich habe mich herausfahren lassen, um einen letzten Blick auf all diese Dinge zu werfen. Sprechen Sie ruhig, es strengt mich nicht an. Sie taten recht, einen Mann zu besuchen, der stirbt. Es ist gut, in diesem Augenblick nicht allein zu sein. Man hat so seine besonderen Wünsche. Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt, aber ich weiß, daß meine Kraft kaum noch drei Stunden vorhält. Dann ist Nacht. Nun, was tut’s? Sterben ist eine einfache Sache. Man braucht dazu keine Morgensonne. Ich werde im Licht der Sterne sterben.«

Der Greis wandte sich dem Hirten zu.

»Geh schlafen, du. Du hast gestern nacht gewacht, du bist müde.«

Der Junge trat in die Hütte. Der Alte folgte ihm mit den Augen und sagte leise:

»Während er schläft, werde ich sterben. Gute Nachbarschaft für zwei Arten Schlaf.«

Der Bischof war nicht so tief gerührt, wie man es hätte vielleicht erwarten sollen. Das war eine Art zu sterben, in der nichts von Gott zu fühlen war. Und um alles zu sagen – denn auch die kleinen Widersprüche in großen Herzen dürfen nicht unerwähnt bleiben – , er, der lachte, wenn man ihn »hoher Herr« ansprach, empfand es doch ein wenig peinlich, daß er hier nicht »Monsignore« angesprochen wurde; fast fühlte er sich versucht, sein Gegenüber »Bürger« anzureden. Er hatte eine Anwandlung, mit dem Mann in jener groben Vertraulichkeit zu sprechen, die bei Priestern und Ärzten so gewöhnlich ist, ihm aber sonst fremd war. Dieser Mann, dieses Konventsmitglied, dieser Volksvertreter war ein Mächtiger der Erde gewesen, und vielleicht zum erstenmal in seinem Leben fühlte der Bischof eine Neigung, hart zu sein.

Der Alte dagegen ließ seinen Blick bescheiden und herzlich auf dem Fremden ruhen, und es war, als ob die Demut dessen in ihm fühlbar würde, der sich anschickt, in Staub zu zerfallen.

Der Bischof konnte sonst Neugierde nicht vertragen, sie galt ihm beinahe als Beleidigung; doch konnte er sich diesmal nicht versagen, das Konventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit zu betrachten, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die er sich sonst, jedem anderen Menschen gegenüber, wohl selbst verargt hätte. Aber ein Konventsmitglied stand für ihn gewissermaßen außerhalb des Gesetzes, sogar außerhalb des Gebots der Liebe. Der alte G. mit seiner Ruhe, seiner fast aufrechten Haltung und kräftigen Stimme war einer jener imposanten Achtzigjährigen, die den Physiologen in Erstaunen setzen. Die Revolution hat viele Menschen hervorgebracht, die das Format ihrer großen Zeit hatten. Man spürte, daß dieser Greis seinen Mann gestanden hatte. Noch an der Schwelle des Todes hatte er seine männliche Kraft bewahrt. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, sein kräftiges Achselzucken konnte den Tod in Verlegenheit setzen. Asrael, der Todesengel der Mohammedaner, wäre vor seiner Schwelle umgekehrt und hätte geglaubt, er stehe vor einer falschen Tür. G. schien zu sterben, weil er selbst einverstanden war. Auch sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges, Selbstgewolltes. Nur die Beine waren unbeweglich. Sie waren tot und kalt, während der Kopf noch in voller Kraft lebte, sie waren bereits ergriffen vom Reich der Schatten, während das Haupt noch in das Licht ragte. In diesem Augenblick glich G. jenem König aus dem orientalischen Märchen, dessen Oberkörper Fleisch, dessen Unterkörper aber Marmor ist.

Eine Steinbank war da, der Bischof setzte sich. Unvermittelt begann er zu sprechen.

»Ich beglückwünsche Sie«, sagte er nicht ohne Vorwurf, »denn Sie haben wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt.«

Das Konventsmitglied schien den bitteren Beigeschmack des Wortes »wenigstens« nicht zu beachten. G. lächelte nicht mehr, als er sagte:

»Beglückwünschen Sie mich nicht zu voreilig, mein Herr: ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt.«

Das war hart gegen hart gesprochen.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Bischof.

»Daß der Mensch einen Tyrannen hat, die Unwissenheit. Gegen ihn habe ich gestimmt. Dieser Tyrann hat das Königtum, die verfälschte Autorität, ersonnen. Aber die Wissenschaft ist die wahre Autorität. Nur von ihr darf der Mensch sich führen lassen.«

»Und von seinem Gewissen«, fügte der Bischof hinzu.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist jener Teil der Wissenschaft, der uns angeboren ist.«

Etwas erstaunt hörte der Bischof Bienvenu diese Sprache, die ihm neu war.

»Was Ludwig XVI. betrifft«, fuhr das Konventsmitglied fort, »so habe ich gegen seinen Tod gestimmt. Ich halte es nicht für mein Recht, Menschen zu töten, aber es ist meine Pflicht, das Übel auszurotten. Ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt, für das Ende der Prostitution der Frauen, der Sklaverei der Männer, der Unwissenheit der Kinder. Das war mein Ziel, als ich für die Republik stimmte, für Brüderlichkeit, Eintracht, Aufstieg! Ich wollte mitwirken am Sturz der Vorurteile und Irrtümer. Ihre Vernichtung soll uns das Licht bringen. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, dieses Gefäß allen Elends, und so ist aus ihr eine Freudenurne geworden.«

»Die Freude war gemischt«, meinte der Bischof.

»Sie mögen sagen, sie war getrübt; und heute, nach jener verhängnisvollen Wiederkehr des Vergangenen, ist sie vollends verschwunden. Ach, das Werk ist unvollendet, ich gebe es wohl zu. Wir haben das alte Regime zerstört, aber die Ideen, auf denen es fußte, konnten wir nicht unterdrücken. Es genügte nicht, den Mißbrauch abzuschaffen. Eine neue Gesittung mußte entwickelt werden. Die Mühle ist nicht mehr, aber noch immer weht derselbe Wind.«

»Sie haben zerstört. Das mag nützlich sein, aber ich mißtraue einer Zerstörung, die aus dem Zorn entsteht.«

»Auch das Recht kennt den Zorn, mein Herr; der Zorn beleidigten Rechtsgefühls ist ein Element des Fortschritts. Man mag sagen, was man will, die französische Revolution ist seit dem Erscheinen Christi der gewaltigste Schritt, den das Menschengeschlecht vorwärts getan hat. Sie hat alles soziale Unrecht ausgeglichen. Sie hat die Geister besänftigt. Sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt. Sie hat der ganzen Erde den Stempel ihrer Zivilisation aufgedrückt. Sie war gütig. Sie ist die Heiligung des Menschenbegriffs.«

»Und dreiundneunzig?«

Mit erhabener Feierlichkeit richtete sich das Konventsmitglied in seinem Stuhle auf und rief, so laut ein Sterbender zu sprechen vermag:

»Ach, da wären Sie also! 1793! Darauf habe ich gewartet! Oh, fünfzehn Jahrhunderte lang hat diese Wolke sich zusammengeballt, dann ist sie geborsten, und nun klagt ihr den Blitz an.«

Vielleicht fühlte der Bischof, ohne sich selbst dessen ganz bewußt zu werden, daß etwas in ihm unsicher wurde. Aber er bewahrte Haltung.

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Gerechtigkeit ist. Der Blitz darf sich nicht irren. Wie steht es mit Ludwig XVII.?«