Das Konventsmitglied streckte die Hand aus und ergriff den Arm des Bischofs.
»Ludwig XVII.? Nun, wen beklagen Sie? Das unschuldige Kind? Gut, ich beklage es mit Ihnen. Das Königskind? Das wäre zu erwägen. Für mich ist der Bruder des Cartouche, dieses unschuldige Kind, das auf dem Grèveplatz an den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, nur weil es eben der Bruder jenes Cartouche war, nicht minder beklagenswert als der Enkel jenes Ludwig XV., dieses unschuldige Kind, das im Temple zu Tode gemartert wurde, eben weil es der Enkel jenes Ludwig XV. war.«
»Mein Herr«, sagte der Bischof, »ich liebe es nicht, daß Sie diese Namen in einem Atem nennen.«
»Cartouche? Ludwig XV.? Welchen von beiden bevorzugen Sie?«
Eine Pause trat ein. Der Bischof bedauerte fast, hierhergekommen zu sein, und doch fühlte er sich seltsam berührt und ergriffen.
»Ja, mein Herr«, fuhr das Konventsmitglied fort, »Sie lieben nicht die Härte der Wahrheit. Christus … der liebte sie. Der nahm eine Geißel und trieb das Pack aus dem Tempel. Seine Geißel sagte rauhe Wahrheiten. Wenn er sagte, sinite parvulos, lasset die Kindlein zu mir kommen, so machte er zwischen den Kindern keinen Unterschied. Ihm war es nicht peinlich, den Jungen des Barabbas und den des Herodes einzuladen. Die Unschuld, mein Herr, krönt sich selbst. Sie bedarf keiner Auszeichnung. Sie ist an sich erhaben, herrlich – ob sie in Lumpen gekleidet ist oder in Seidengewänder, die mit den königlichen Lilien geschmückt sind.«
»Das ist wahr«, sagte der Bischof leise.
»Einen Augenblick«, sagte das Konventsmitglied, »Sie erwähnten Ludwig XVII. Verstehen wir uns richtig: sind es die Unschuldigen, alle die kleinen Märtyrer, die niedrigen und die hohen, die wir beklagen? Wenn es so ist, dann will ich einstimmen. Gut, aber dann dürfen wir nicht bei 1793 stehenbleiben, unsere Tränen müssen früher einsetzen. Ich will mit Ihnen die Kinder der Könige beklagen, wenn Sie mit mir einstimmen in die Klage um die Kinder des Volkes.«
»Ich beklage alle«, sagte der Bischof.
»Gut«, rief G., »und wenn die Waagschale sich senken soll, dann sei es auf der Seite des Volkes, denn es leidet seit längerer Zeit.«
Wieder trat eine Pause ein. Das Konventsmitglied brach sie. Der Greis stützte sich auf den Ellbogen, kniff mit Daumen und Zeigefinger eine Falte in seine Wange, wie man es wohl mechanisch tut, wenn man einen anderen verhört, und stellte den Bischof streng zur Rede.
»Ja, mein Herr, seit langem leidet das Volk. Sie aber kommen zu mir und sprechen mir von Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seit ich in dieser Gegend lebe, bin ich einsam, setze meinen Fuß nicht vor meine Schwelle, sehe niemand als diesen Jungen, der mir hilft. Wohl ist Ihr Name zu mir gedrungen, ich muß sagen, er klang nicht übel, aber das beweist nichts. Geschickte Leute haben es nicht schwer, dem braven Volk etwas glaubhaft zu machen. Übrigens, ich habe Ihre Equipage nicht vorfahren gehört, Sie haben sie wohl da hinter dem Wald, am Kreuzweg stehengelassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie erklären, Sie seien der Bischof, aber das gibt mir für Ihre moralische Persönlichkeit keine Gewähr. Darum wiederhole ich meine Frage. Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, ein Kirchenfürst, einer dieser mit stattlichen Renten ausgestatteten Herren, denen es nicht an fetten Pfründen fehlt, Sie haben als Bischof von Digne fünfzehntausend Franken Gehalt und zehntausend Franken Nebeneinkünfte, also zusammen fünfundzwanzigtausend Franken! Sie gehören zu jenen, die eine gute Küche führen, denen es an livrierten Dienern nicht fehlt, die freitags Wasserhühner essen, die in einer Galakutsche, Lakaien hintenauf, einherfahren – und das im Namen Jesu Christi, der barfuß ging. Sie sind ein Prälat. Renten, Palast, Pferde, Diener, einen guten Tisch, alle Annehmlichkeiten des Lebens, all das genießen Sie, aber das sagt mir nur wenig. Über Ihren inneren, wesentlichen Wert weiß ich nichts, obwohl Sie doch zu mir gekommen sind, um mir die Tröstungen der Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?«
Der Bischof senkte den Kopf und sagte:
»Vermis sum.«
»Ein Erdenwurm, der in der Karosse fährt«, murmelte das Konventsmitglied. Jetzt war der alte Rebell herrisch und der Bischof demütig.
»Mein Herr«, sagte der Bischof, »sagen Sie mir doch, wieso meine Equipage, die dort hinter den Bäumen wartet, mein wohlbestellter Tisch mit den Wasserhühnern, die ich freitags esse, und meine Rente von fünfundzwanzigtausend Livres, wieso schließlich mein Palast mit meinen Lakaien beweist, daß das Mitleid keine Tugend, die Milde keine Pflicht und das Jahr 93 nicht verabscheuungswürdig ist?«
Das Konventsmitglied strich sich über die Stirn, wie um eine Wolke zu verscheuchen.
»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich tat unrecht, mein Herr. Sie sind hier in meinem Hause, Sie sind mein Gast. Ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sie erörtern meine Gedanken, also habe ich mich darauf zu beschränken, Ihre Argumente zu bekämpfen. Ihr Reichtum und Ihr behagliches Leben bieten mir im Kampf einen Vorteil, den ich nicht benützen darf. Es wäre gegen den guten Geschmack. Ich verspreche Ihnen, es in Zukunft nicht mehr zu tun.«
»Ich danke Ihnen«, sagte der Bischof.
»Gut, Sie sagen also, das Jahr 93 sei verabscheuungswürdig? Wir seien erbarmungslos gewesen?«
»Erbarmungslos, das ist es. Was halten Sie von Marat, der in die Hände klatschte, als er die Guillotine sah?«
»Und was halten Sie von Bossuet, der die Protestantenmetzeleien mit einem Tedeum feierte?«
Diese Antwort war hart, aber sie traf scharf wie eine Degenspitze. Der Bischof fuhr zusammen und fand keine Erwiderung. Es war ihm schmerzlich, Bossuet in diesem Zusammenhang nennen zu hören. Auch die besten Geister haben ihren Fetisch und fühlen sich verletzt, wenn die Logik mit ihnen respektlos umspringt.
Der alte Revolutionär begann schwer zu atmen; die Atemnot des Todeskampfs würgte ihn in der Kehle; noch immer strahlte das Licht in seinen Augen.
»Wir können noch ein wenig sprechen. Sie verabscheuen das Jahr 93 und finden es erbarmungslos, aber wie war die Monarchie? Oh, ich beklage das Schicksal Marie Antoinettes, aber auch jene arme Hugenottin verdient mein Mitleid, die 1685 unter Ludwig dem Großen, obwohl sie noch ihr Kind nährte, nackt bis zum Gürtel an einen Pfahl gebunden und vor die Wahl gestellt wurde, ihr Kind vor ihren Augen töten zu lassen oder gegen ihr Gewissen ihrem Glauben abzuschwören. Wie beurteilen Sie diese einer Mutter bereitete Tantalusqual? Mein Herr, beachten Sie es wohl, die französische Revolution hatte ihren großen Sinn. Die Zukunft wird die Verirrungen ihres Zorns entschuldigen, denn ihr Ergebnis war eine Verbesserung der Welt. Sie hat grausam zugeschlagen, aber sie hat dem Menschengeschlecht Wohltaten erwiesen. Doch ich will nicht weitersprechen, ich bin es allzu leid, und der Tod ist nahe.«
Er ahnte nicht, daß er Schritt für Schritt die inneren Verschanzungen des Bischofs gestürmt hatte. Eine nur blieb ihm noch, ein letzter Hort des Widerstandes.
»Der Fortschritt muß an Gott glauben«, sagte er. »Das Gute verträgt keine unfrommen Diener. Der Atheist ist ein schlechter Führer des Menschengeschlechts.«
Der alte Volksvertreter antwortete nicht. Ein Zittern durchschauerte ihn. Er blickte zum Himmel auf, und eine Träne trat in sein Auge. Fast stammelnd, den Blick in die Tiefe des Himmels gesenkt, flüsterte er:
»O du, Ideal, nur du bist!«
Der Bischof empfand eine unaussprechliche Erschütterung.
Nach einem Schweigen wies der Greis zum Himmel hinauf und sagte:
»Es gibt eine Unendlichkeit dort droben. Wenn sie von keinem Ich belebt wäre, wäre das Ich ihre Begrenzung; sie wäre nicht mehr unendlich; mit anderen Worten, sie wäre nicht mehr. Aber sie ist. Darum gibt es ein Ich in ihr, das Ich der Unendlichkeit – Gott!«