Der Sterbende hatte diese letzten Worte mit erhobener Stimme gesprochen, in ekstatischer Verzückung, als ob er jenes höhere Wesen erschaue. Als er ausgesprochen hatte, schlossen sich seine Augen. Die Anstrengung hatte ihn erschöpft. Offenbar hatte er in einer Minute die Kraft verbraucht, die ihm verblieben war. Seine Worte hatten ihn jenem genähert, der im Tode ist. Der letzte Augenblick war nahe.
Der Bischof begriff; als Priester war er hierhergekommen, war von kalter Ablehnung stufenweise bis zu höchster Rührung gelangt; jetzt nahm er diese zerfurchte, eisige Hand und beugte sich über den Sterbenden.
»Dies ist die Stunde Gottes. Wäre es nicht beklagenswert, wenn wir einander vergeblich begegnet wären?«
Der Revolutionär blickte auf. Ernst, den Mißmut überschattete, lag auf seiner Stirn.
»Herr Bischof«, sagte er mit einer Langsamkeit, die vielleicht mehr seiner Würde als der Schwäche seiner Todesstunde entsprang, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung gewidmet. Sechzig Jahre war ich alt, als mein Vaterland mich rief und befahl, daß ich mich in seine Angelegenheiten mische. Ich habe gehorcht. Ich sah Mißbräuche und bekämpfte sie. Ich sah Tyrannei, und ich habe sie niedergerungen. Für Recht und Gesittung habe ich gekämpft. Unser Land war vom Feinde bedrückt, ich habe es verteidigt. Frankreich war bedroht, ich habe mein Leben eingesetzt. Ich war nicht reich, und ich bin jetzt arm. Ich war einer der Führer des Staates, die Schatzkammern waren gefüllt mit Gold und Silber, so daß wir die Mauern stützen mußten, aber ich aß zu Mittag für zweiundzwanzig Sous in der Rue de l’Arbre-Sec. Ich habe den Unglücklichen geholfen, habe die Bedrückten aufgerichtet. Wenn ich Altartücher zerriß – und das habe ich getan –, so geschah es, um die Wunde des Vaterlandes zu verbinden. Sooft das Menschengeschlecht dem Licht entgegenstrebte, war ich auf seiner Seite. Wenn der Fortschritt erbarmungslos war, stellte ich mich ihm entgegen. Es geschah, daß ich meine eigenen Feinde, Leute von euch, beschützte. In Peteghem, in Flandern, dort, wo die Könige aus dem Merowingergeschlecht den Winterpalast hatten, gibt es ein Kloster der Urbanistinnen, die Abtei der Ste. Claire en Beaulieu – die habe ich 1793 gerettet. Ich tat meine Pflicht, so gut ich konnte. Man hat mich verjagt, gehetzt, verfolgt, böser Dinge bezichtigt, verleumdet, verflucht, proskribiert. Seit vielen Jahren schon sehe ich, ein Greis mit weißen Haaren, wie viele Leute auf mich verächtlich herabblicken, der armen, unwissenden Menge bin ich ein Gezeichneter; gut, ich nehme mein Schicksal an, ich hasse niemand. Aber jetzt zähle ich sechsundachtzig Jahre und werde sterben. Was wollen Sie noch von mir?«
»Ihren Segen«, sagte der Bischof. Er kniete nieder.
Als er aufblickte, hatte das Antlitz des Konventsmitglieds einen erhabenen Ausdruck angenommen. Der Greis war tot.
Eine Einschränkung
Es wäre verfehlt, wollte man aus dem Gesagten schließen, Monsignore Bienvenu sei ein »philosophisch veranlagter Geistlicher« oder ein »patriotischer Pfarrer« gewesen. Seine Begegnung mit dem Konventsmitglied G. hatte ihn in Staunen versetzt und noch weicher gestimmt als je. Das war alles.
Obwohl Monsignore Bienvenu kein Mann der Politik war, muß vielleicht an dieser Stelle doch in aller Kürze gesagt werden, wie er zu den Ereignissen seiner Zeit Stellung nahm.
Gehen wir einige Jahre zurück.
Kurz nach seiner Ernennung zum Bischof hatte der Kaiser Herrn Myriel zum Baron erhoben, zugleich mit einigen anderen Bischöfen. Wie bekannt, wurde der Papst in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1809 verhaftet. Bei dieser Gelegenheit wurde Myriel von Napoléon in die Synode der französischen und italienischen Bischöfe berufen, die in Paris zusammentreten sollte. Diese Synode tagte in Notre-Dame und trat am 15. Juni 1811 unter dem Vorsitz des Kardinals Fesch zusammen. Myriel war einer der fünfundneunzig Bischöfe, die an dieser Sitzung teilnahmen. Er erschien noch drei- oder viermal bei den Sitzungen, aber als Bischof einer Diözese im Hochland, als Mensch, der fast unmittelbar in der Natur lebte, an ländliche Sitten gewohnt, brachte er in diese Gesellschaft erhabener Herren Ideen mit, die dort peinlich auffielen. Er wurde bald nach Digne zurückgeschickt. Man fragte ihn, warum er so rasch heimgekehrt sei, und er sagte:
»Ich war ihnen peinlich. Die Luft der Außenwelt kam mit mir in den Saal. Ich war ihnen unangenehm wie eine offene Tür. Was wollen Sie, diese Herren sind Fürsten, ich bin nur ein armer Bauernbischof.«
Er hatte in der Tat Mißfallen erregt.
Da wir nichts verheimlichen wollen, müssen wir hinzufügen, daß er Napoléons Niedergang kalt aufnahm. Seit 1813 nahm er an den gegen den Kaiser gerichteten Kundgebungen teil und spendete ihnen Beifall. Als Napoléon von der Insel Elba zurückkehrte, wollte der Bischof ihn nicht besuchen und weigerte sich, während der Hundert Tage in den Kirchen für den Kaiser beten zu lassen.
Außer seiner Schwester, Fräulein Baptistine, hatte er noch zwei Brüder; der eine war General, der andere Präfekt. Er stand mit ihnen in lebhaftem Briefwechsel. Zu dem ersteren aber hatte er einige Zeit lang die Beziehungen abgebrochen, weil er nach Napoléons Landung in Cannes an der Spitze von zwölfhundert Mann, die den Kaiser verfolgen sollten, es so angestellt hatte, daß Napoléon ihm entwischte. Mit dem anderen Bruder, dem ehemaligen Präfekten, einem wackeren und würdigen Manne, der in Paris lebte, wechselte er freundschaftliche Briefe.
Im übrigen war er in allen Dingen gerecht, wahr, klug, bescheiden und würdig. Ein guter Priester, ein Weiser und ein Mann. Auch in seinen politischen Ansichten war er – von jener Einzelheit abgesehen, die wir berichteten und die wir hart verurteilen – tolerant und einsichtsvoll, vielleicht mehr als wir.
Der Torwart des Stadthauses war vom Kaiser in Amt und Würden eingesetzt worden. Es war ein ausgedienter Unteroffizier der alten Garde, einer, der Austerlitz mitgemacht und dort das Kreuz der Legion bekommen hatte, Bonapartist vom Scheitel bis zur Sohle. Gelegentlich entschlüpften diesem armen Teufel unbedachte Äußerungen, die damals als aufrührerische Reden bewertet wurden. Seit das Bildnis des Kaisers von dem Kreuz der Ehrenlegion entfernt worden war, trug er nie mehr Uniform, um nicht das Kreuz anlegen zu müssen. Er hatte das kaiserliche Bildnis ehrfürchtig aus dem Kreuz entfernt, das Napoléon ihm selbst an die Brust geheftet hatte, aber die freie Stelle ließ er leer. »Lieber sterben«, sagte er, »als die drei Kröten auf meinem Herzen tragen.«
Oft machte er sich laut über Ludwig XVIII. lustig.
»Wenn der Alte mit seinem Podagra doch zum Teufel ginge! Wenn er sich doch mit seinen englischen Gamaschen und seiner Perücke zu den Preußen scheren möchte!« So verstand er es, in einem einzigen Fluch die beiden Dinge zu vereinen, die er auf der Welt am meisten verabscheute, England und Preußen. Er trieb es so toll, daß er aus seinem Amt gejagt wurde. Jetzt lag er brotlos mit Weib und Kindern auf der Straße. Der Bischof ließ ihn kommen, schalt ihn milde aus und machte ihn zum Türhüter der Hauptkirche. So war er in neun Jahren dank seinen frommen Handlungen und seinem gütigen Verfahren in ganz Digne Gegenstand zärtlicher Verehrung. Sogar sein Verhalten gegen Napoléon wurde von dem Volk, das seinen Kaiser anbetete, aber auch seinen Bischof liebte, verziehen und schweigend übergangen.
Monsignore Bienvenu ist einsam
Fast immer sind die Bischöfe von einem Schwarm junger Geistlicher umdrängt wie die Generäle von jungen Offizieren. In ihrer Gefolgschaft gedeihen diese Priester, die der heilige Franz von Sales, dieser feine Kopf, irgendwo Gelbschnäbelpriester nennt. Jede Karriere entwickelt Streber, die den Hochgekommenen den Hof machen. Jede Macht schafft sich ihre Gefolgschaft, jedes Glück seinen Hof. Wer immer es auf eine glänzende Zukunft abgesehen hat, sammelt sich um eine glänzende Gegenwart. Keine Metropole ohne ihren Stationskommandanten. Wenn ein Bischof über einen gewissen Einfluß verfügt, folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Eskorte junger Cherubim aus den Seminaren, die um ihn einen undurchdringlichen Kreis bilden und aufpassen, daß sein Lächeln nicht einem Fremden zufällt. Dem Bischof gefallen, bedeutet eine Anwartschaft auf ein Unterdiakonat. Man will seinen Weg machen, und das Apostolat schließt das Canonicat nicht aus.