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So wie es bei den Beamten den Dreispitz gibt, so unter den Männern der Kirche die Mitra. Da sind diese Bischöfe, die bei Hof gut angeschrieben sind, reich, in der Gesellschaft etwas gelten, ohne Zweifel zu beten verstehen, aber darum nicht minder geschickt sind, auch weltliche Bitten vorzutragen, und nicht anstehen, in den Vorzimmern der Großen zu sitzen; sie sind das Sinnbild der vereinigten Geistlichkeit und Diplomatie, eher Abbés als Priester, eher Prälaten als Bischöfe. Wohl dem, der in ihrem Schatten gedeiht. Überall haben sie Einfluß, und sie lassen auf Günstlinge und Schmeichler, auf alle diese gefälligen jungen Leute fette Pfarreien, Pfründen, Archidiakonate, Almosenierstellen und Ämter in den Kathedralen und bischöflichen Palais herabregnen. Indem sie selbst ihren Weg machen, schleppen sie ihre Satelliten hinter sich her; es ist wie bei der Sonne, die ihre Planeten durch das Weltall schleift. Von ihrem Glanz fällt etwas ab auf ihre Gefolgschaft. Je reicher die Diözese des Bischofs, um so fetter die Pfarre, die er seinem Günstling bieten kann. Und gar erst Rom! Ein Bischof, der es versteht, Erzbischof zu werden, ein Erzbischof, der es zum Kardinal bringt, nimmt dich als Konklavisten mit, du trittst in die Rota ein, bekommst das Pallium, wirst Kammerherr, Monsignore sogar, und wer erst Bischof ist, hat nur mehr einen Schritt zur Eminenz, und von der Eminenz zur Heiligkeit führt die Wahlurne. Das Barett darf immer von der Tiara träumen. Heutzutage ist der Priester der einzige Mensch, der es regelrecht zum König bringen kann – und zu welch einem König! Welch eine Pflanzschule der Hoffnungen ist doch ein Priesterseminar! Wie viele schüchtern errötende Chorknaben, wie viele junge Abbés tragen auf dem Kopf bereits den berühmten Korb mit den Eiern aus der Fabel? Wie oft wird gewöhnlicher Ehrgeiz für innere Berufung gehalten, und das noch in seliger Selbsttäuschung?

Monsignore Bienvenu, dieser bescheidene, arme, dabei höchst eigenartige Mensch, wurde nicht zu den großen Männern der Kirche gezählt. Man erkennt es schon daran, daß sich keine jungen Priester um ihn drängten. Wir haben schon gesagt, daß er in Paris nicht »gut ankam«. Kein zukunftsfreudiger Abbé wünschte sich an diesen greisen Einzelgänger zu klammern. Kein bescheidenes Pflänzlein wollte im Schatten dieses Baumes grünen. Seine Canonici und Großvikare waren gute alte Männer, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözese kein Sprungbrett zum Kardinalsamt war, die ihrem Bischof glichen und sich von ihm nur in dem einzigen unterschieden, daß sie bereits am Ende ihrer Karriere angelangt waren, während er doch ein Ziel erreicht hatte. Man wußte, daß Monsignore Bienvenu niemanden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus seinem Seminar hervorgingen, ließen sich bald den Erzbischöfen von Aix oder Auch empfehlen und machten sich aus dem Staube. Denn schließlich, um es zusammenzufassen, man will vorwärtsgestoßen werden. Ein Heiliger, der die Selbstverleugnung übertreibt, ist ein gefährlicher Nachbar; man könnte sich leicht mit unheilbarer Armut anstecken, oder ein so steifes Rückgrat bekommen, daß es ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die man besser meidet. Darum wurde Monsignore Bienvenu allein gelassen. Wir leben in einer dumpfen Gesellschaft. Vorwärtskommen, das ist die höchste Weisheit der Korruption.

Nichts ist scheußlicher als dieses Ideal des Erfolges. Seine trügerische Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die Menge bedeutet Erfolg soviel wie geistige Überlegenheit. In unserer Zeit ist eine fast offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten und ist noch stolz darauf, seine Livree zu tragen. Wer das große Los gewinnt, gilt für einen klugen Mann. Wer triumphiert, ist ehrenwert. Von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen abgesehen, hat unser Jahrhundert, kurzsichtig, wie es ist, nur falsche Helden bewundert. Wenn ein Notar Abgeordneter wird, ein falscher Corneille einen Tiridates schreibt, ein Eunuch sich einen Harem zulegt, ein Säbelraßler zufällig eine Entscheidungsschlacht schlägt, ein Apotheker für eine Armee Pappsohlen liefert und damit vierhunderttausend Livres Beute stiehlt, ein Hausierer sich auf den Wucher legt und damit sieben oder acht Millionen zusammenrafft, ein Intendant bei seinem Amtsaustritt so reich ist, daß er Finanzminister werden könnte, dann gilt er heute für ein Genie, und man verwechselt, was leicht vergoldet ist, mit dem massiven Gold.

Zweites Buch

Der Fall

Abend nach einem Tagmarsch

An einem der ersten Tage des Oktobers 1815 betrat ein Mann, der zu Fuß reiste, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die sich um diese Zeit am Fenster oder an der Türschwelle zeigten, betrachteten den Fremdling mit einer gewissen Unruhe. Es war schwer, sich einen herabgekommeneren Menschen als diesen vorzustellen. Er war von mittlerem Wuchse, stämmig und bei Kräften. Sein Alter hätte man mit sechsundvierzig oder achtundvierzig Jahren angeben können. Seinen Kopf bedeckte eine Mütze, deren Lederschirm sein sonnenverbranntes, schweißbedecktes Gesicht zum Teil verbarg. Sein Hemd aus grobem, gelbem Leinen, das am Halse durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ eine behaarte Brust sehen. Sein Halstuch hatte er wie einen Strick zusammengedreht, seine Hosen waren aus blauem Zwillich, zerschlissen und schäbig, das eine Bein am Knie blank gescheuert, das andere durchlöchert. Er trug eine zerrissene, graue Joppe, deren Ärmel am Ellbogen einen Flicken zeigten, einen vollen, gutverschnürten Tornister, einen wuchtigen Knotenstock, genagelte Schuhe, aber keine Strümpfe. Das Haar trug er kurzgeschoren, der Bart war lang.

Niemand kannte ihn. Offenbar war er nur auf dem Durchmarsch. Woher er kam? Aus dem Süden. Vielleicht vom Meere. Denn er betrat Digne durch dasselbe Tor, durch das Napoléon sieben Monate früher auf dem Wege von Cannes nach Paris eingezogen war. Sichtlich war er den ganzen Tag unterwegs gewesen. Er schien sehr müde. Frauen aus der Vorstadt, die zum Fluß hin liegt, hatten gesehen, wie er am Ende der Promenade, unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, stehenblieb und aus einem Brunnen trank. Der Durst mußte ihn arg quälen, denn Kinder hatten beobachtet, daß er zweihundert Schritte später, am Marktplatz, wieder Wasser aus dem Brunnen schöpfte.

An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, bog er links ab und wandte sich dem Stadthaus zu. Er trat ein und kam erst nach einer Viertelstunde wieder heraus. Ein Gendarm saß neben dem Eingang auf einer Steinbank, auf die General Drouot am 4. März gestiegen war, um der erregten Menge die Proklamation aus dem Golfe von Juan vorzulesen. Der Wanderer nahm die Mütze ab und grüßte den Gendarmen scheu. Der antwortete nicht, folgte ihm mit einem forschenden Blick und ging dann in das Haus.

Es gab damals in Digne eine hübsche Herberge, La Croix-de-Colbas, deren Wirt, ein gewisser Jacquin Labarre, in der Stadt wegen seiner Verwandtschaft mit einem anderen Labarre hoch im Ansehen stand, weil jener andere in Grenoble die Herberge zu den Trois Dauphins unterhielt und bei der Garde gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoléons im Golfe von Juan hatte man sich in jener Gegend viel mit der Herberge der Trois Dauphins beschäftigt. Es wurde erzählt, General Bertrand habe, als Fuhrmann verkleidet, im Januar dort zu den Stammgästen gehört, unter den altgedienten Soldaten Kreuze der Ehrenlegion und unter den Bürgern Napoléondors verteilt. Tatsache ist, daß der Kaiser bei seinem Einzuge in Grenoble nicht in der Präfektur absteigen wollte, sondern dem Bürgermeister antwortete: »Ich kenne hier einen braven Mann, bei dem kehre ich ein.« Und er war in den Trois Dauphins abgestiegen. Dieser Ruhm jenes Labarre aus Grenoble strahlte fünfundzwanzig Meilen weit, und es fiel auch etwas davon auf die Croix-de-Colbas ab. Man sagte von ihrem Wirt in der Stadt: er ist der Vetter jenes Labarre in Grenoble.