Mit dem Können, der Übung und der Schnelligkeit langer Erfahrung begann Pearson die Obduktion mit einem tiefen >Y<Einschnitt. Mit zwei kräftigen Schnitten von jeder Schulter nach unten, die sich am Brustbein trafen, bildete er die obere Gabel des >Y<. Von diesem Punkt schnitt er nach unten und öffnete von der Brust bis zu dem Geschlechtsteil hinunter den Leib. Es gab ein zischendes, fast reißendes Geräusch, als er das Messer durch die Haut zog, sie teilte und die darunterliegende gelbliche Fettschicht bloßlegte.
McNeil, der ständig die Lernschwestern beobachtete, bemerkte, daß zwei totenblaß geworden waren. Eine dritte holte mit offenem Mund tief Luft und wendete sich ab. Die drei anderen sahen stoisch zu. Der Assistenzarzt behielt eine der Blaßgewordenen im Auge. Es war nicht ungewöhnlich, daß eine Schwester bei ihrer ersten Obduktion umkippte. Aber diese sechs sahen so aus, als ob sie durchhalten würden. Bei den zweien, die er beobachtete, kehrte langsam die Farbe zurück, und das dritte Mädchen hatte sich wieder umgedreht, obwohl sie ihr Taschentuch gegen den Mund drückte. Gleichmütig sagte McNeil zu den Schwestern: »Wenn eine von Ihnen für ein paar Augenblicke hinausgehen will, macht es nichts. Das erste Mal ist es immer etwas angreifend.« Sie sahen ihn dankbar an, aber keine rührte sich. McNeil war bekannt, daß manche Pathologen keine Schwestern zu einer Obduktion zuließen, ehe nicht die ersten Schnitte vollzogen waren. Pearson allerdings hielt nichts davon, jemand etwas ersparen zu wollen. Er war der Ansicht, die Lernschwestern sollten die Obduktion von Anfang an mit ansehen, und das war ein Punkt, in dem McNeil ihm zustimmte. Eine Krankenschwester mußte sich an vieles gewöhnen, das schwer zu ertragen war: Verletzungen, zerrissene Glieder, Verwesung, Operationen. Je früher sie lernten, sich mit dem Anblick und den Gerüchen der Medizin abzufinden, desto besser für alle Beteiligten, einschließlich ihrer selbst.
Jetzt zog McNeil seine eigenen Handschuhe über und begann mit Pearson zu arbeiten. Inzwischen hatte der alte Mann mit schnellen Bewegungen die Haut von der Brust gelöst, mit einem größeren Messer von den Muskeln getrennt und die Rippen bloßgelegt. Als nächstes öffnete er mit der scharfen, kräftigen Rippenschere den Brustkorb und legte den Herzbeutel und die Lungen frei. Die Handschuhe, die Instrumente und der Tisch begannen sich jetzt mit Blut zu bedecken. Seddons, auch mit Handschuhen neben ihm am Tisch, durchtrennte die unteren Muskellappen und öffnete die Bauchhöhle. Er ging durch den Raum, um einen Eimer zu holen, und nahm den Magen und die Eingeweide heraus, die er, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, in den Eimer legte. Der Gestank begann sich bemerkbar zu machen. Jetzt banden Pearson und Seddons gemeinsam die großen Arterien ab, schnitten sie heraus, damit der Leichenbestatter keine Schwierigkeiten bei der Einbalsamierung hatte. Seddons griff nach einem kleinen Schlauch oberhalb des Tisches, drehte einen Hahn an und begann, das in die Bauchhöhle ausgeflossene Blut abzusaugen, und nach einem Nicken Pearsons tat er das gleiche in der Brusthöhle.
Inzwischen hatte McNeil sich dem Kopf zugewandt. Als erstes vollzog er einen Schnitt um die Schädelbasis. Er setzte unmittelbar hinter dem einen Ohr an und schnitt oberhalb des Haaransatzes hintenherum zum anderen Ohr hinüber, so daß der Schnitt nicht sichtbar war, wenn die Familie des Toten den Verstorbenen zum letzten Mal betrachtete. Dann zog er unter Anwendung aller Kraft seiner Hände die Kopfhaut in einem Stück nach vorn über den Schädel, so daß sie sich über den oberen Teil des Gesichtes legte und die Augen bedeckte. Damit war der ganze Schädel freigelegt, und McNeil griff nach einer kleinen Motorsäge, deren Kabel bereits angeschlossen war. Ehe er den Strom einschaltete, blickte er kurz zu den Lernschwestern hinüber und bemerkte, daß sie ihn mit einer Mischung von ungläubigem Staunen und Entsetzen beobachteten. Immer mit der Ruhe, Kinderchen, dachte er, gleich werdet ihr alles sehen.
Pearson hob behutsam das Herz und die Lungen aus der Brusthöhle, während McNeil die Säge an dem Schädel ansetzte. Das metallische Knirschen, mit dem sich die Stahlzähne des rotierenden Sägeblatts durch den Knochen fraßen, schnitt grausig durch den stillen Raum. Als er aufblickte, sah er, wie das Mädchen mit dem Taschentuch zusammenzuckte. Wenn sie sich übergeben muß, tut sie es hoffentlich nicht hier drin, dachte er. Er schnitt mit der Säge weiter, bis die Schädeldecke ringsum durchtrennt war, legte sie dann fort. George Rinne würde später das Instrument säubern und das Blut davon abwaschen. Jetzt hob McNeil vorsichtig das Schädeldach ab und legte die weiche Hirnhaut frei, die das darunterliegende Gehirn bedeckte. Wieder sah er zu den Schwestern hinüber. Sie hielten tapfer stand. Wenn sie diesen Anblick ertrugen, konnten sie alles ertragen. Nachdem der knochige Teil des Kopfes entfernt war, nahm er eine scharfe Schere und öffnete die große Vene - den Sinus sagittalis superior -, die in der Mitte der Membrane von vorn nach hinten verlief. Das Blut schoß heraus, ergoß sich über die Schere und seine Hand. Es war flüssiges Blut, bemerkte er, zeigte kein Anzeichen einer Thrombose. Sorgfältig prüfte er die Hirnhaut, durchschnitt sie dann und löste sie ab, um die darunterliegende Gehirnmasse freizulegen. Mit einem Messer trennte er das Gehirn sorgfältig vom Rückenmark ab und hob es heraus. Seddons trat zu ihm, hielt ihm ein mit Formalin halb gefülltes Glasgefäß hin, und behutsam ließ McNeil das Gehirn hineingleiten.
Während Seddons McNeil und seinen sicheren und geschickten Händen zusah, überraschte er sich bei der Frage, was im Kopf des Assistenzarztes vorgehen mochte. Er kannte McNeil seit zwei Jahren, zunächst als Kollegen, Assistenzarzt wie er selbst, wenn er auch im hierarchischen System des Krankenhauses dienstälter war, und lernte ihn später während der wenigen Monate, die er in der Pathologie arbeitete, näher kennen. Seddons interessierte sich für Pathologie. Trotzdem war er froh, daß er sie nicht als sein Spezialgebiet gewählt hatte. An seiner Entscheidung für die Chirurgie war ihm nie ein Zweifel gekommen, und er würde froh sein, wenn er in ein paar Wochen dorthin zurückkehrte. Im Gegensatz zu diesem Reich der Toten gehörte der Operationsraum zum Gebiet der Lebenden. Dort pulsierte das Leben, dort wurde jede Bewegung von einem Geist, einem Sinn für das Ziel, bestimmt, den er hier niemals finden konnte. Jedem das Seine, dachte er, und die Pathologie den Pathologen.
Es war noch etwas anderes an der Pathologie. Man konnte bei ihr den Sinn für die Wirklichkeit verlieren, das Bewußtsein, daß Medizin die Menschen betraf und ihnen diente. Und jetzt dieses Gehirn hier. Seddons wurde sich plötzlich deutlich bewußt, daß es vor wenigen Stunden noch das Gedankenzentrum eines Mannes gewesen war, der Koordinator seiner Sinne - des Fühlens, Riechens, Sehens, Schmeckens. Es hatte Gedanken entwickelt, Liebe gekannt, Angst und Triumphe. Gestern, vielleicht heute noch, hatte es den Augen befehlen können, zu weinen, dem Mund, zu schwatzen. Der Tote war Ingenieur gewesen, hatte er aus den Krankenpapieren ersehen. Dies war also ein Gehirn, das sich der Mathematik bedient hatte, das Spannungen und Drücke verstand, Konstruktionsmethoden erdachte, vielleicht Häuser gebaut hatte, eine Straße, ein Wasserwerk, eine Kathedrale - das Erbe dieses Gehirn für andere Menschen, die damit leben und es benutzen würden. Aber was war das Gehirn jetzt? Nicht mehr als eine Gewebemasse, die sterilisiert wurde und nur noch bestimmt war, zerschnitten, untersucht und dann verbrannt zu werden.
Seddons glaubte nicht an Gott, und es war ihm schwer begreiflich, daß gebildete Menschen es konnten. Wissen, Wissenschaft, Denken - je weiter sie fortschritten, desto unglaubwürdiger wurde jede Religion. Er glaubte aber an etwas, das er, weil ihm bessere Worte fehlten, als >den Funken der Menschlichkeit, das Credo des Individuums < bezeichnete. Als Chirurg würde er es natürlich nicht immer mit Individuen zu tun haben. Er würde seine Patienten auch nicht immer kennen. Und selbst wenn, würde es seinem Bewußtsein entschwinden, wenn er sich auf die technischen Probleme seiner Arbeit konzentrierte. Aber schon vor langem hatte er sich vorgenommen, nie zu vergessen, daß hinter allem ein Patient, ein Individuum stand. Während seiner Studienzeit hatte Seddons beobachtet, wie sich bei anderen eine isolierende Schicht bildete, eine Schutzwand gegen den zu engen Kontakt mit dem einzelnen Patienten. Manchmal geschah es zur Abwehr, war es eine vorsätzliche Isolierung gegen persönliche Empfindungen und persönliche Anteilnahme. Indessen fühlte er sich stark genug, um ohne diese Isolierung auszukommen. Außerdem zwang er sich manchmal, über das, was er gerade tat, nachzudenken und Selbstgespräche zu führen, um sich zu vergewissern, daß die Isolierschicht nicht wuchs. Vielleicht hätte es einige seiner Freunde, die Mike Seddons nur als einen ungehemmten Extrovertierten kannten, überrascht, wenn sie manche seiner innersten Gedanken erfahren hätten - vielleicht aber auch nicht. Der Verstand, das Gehirn - oder wie man es sonst nennen wollte - ist eine unvorausberechenbare Maschine.