Wie war das bei McNeil? Empfand er etwas? Oder hatte sich auch um den Assistenzarzt der Pathologie eine Schale gebildet? Seddons wußte es nicht; er nahm es aber an. Und Pearson? Hier hatte er keinen Zweifel. Joe Pearson war durch und durch kalt und klinisch. Trotz seiner großen Szene war er während der Jahre in der Pathologie ausgeglüht. Seddons sah den alten Mann an. Er hatte das Herz aus der Leiche herausgenommen und untersuchte es sorgfältig. Jetzt wendete er sich an die Lernschwestern:
»Die Krankengeschichte dieses Mannes zeigt, daß er vor drei Jahren einen ersten Herzanfall erlitt und einen zweiten zu Beginn dieser Woche. Darum wollen wir als erstes die Herzkranzgefäße untersuchen.« Während die Schwestern gespannt zusahen, öffnete Pearson behutsam die Blutgefäße des Herzmuskels.
»Irgendwo hier sollten wir das Gebiet der Thrombose finden. Ja, da ist es.« Mit der Spitze einer Metallsonde deutete er darauf. Im Hauptzweig der linken koronaren Arterie, einen Zoll vor ihrem Anfang entfernt, hatte er ein halb Zoll großes Gerinnsel bloßgelegt. Er hielt das Herz hoch, damit die Mädchen es sehen konnten.
»Jetzt wollen wir das Herz selbst untersuchen.« Pearson legte das Organ auf ein Sektionsbrett und schnitt es in der Mitte der Länge nach auf. Er klappte die beiden Hälften nebeneinander auf, betrachtete sie und winkte dann die Lernschwestern näher heran. Zögernd traten sie näher.
»Sehen Sie dieses vernarbte Gebiet in dem Muskel?« Pearson deutete auf einige Streifen weißlichen, faserigen Gewebes in dem Herz, und die Schwestern reckten die Hälse über die klaffende, rote Körperhöhle, um besser zu sehen. »Das sind die Folgen des Herzanfalles von vor drei Jahren; ein alter Infarkt, der ausgeheilt ist.«
Nach einer Pause fuhr Pearson fort: »Die Anzeichen für den letzten Anfall haben wir hier in der linken Herzkammer. Beachten Sie das zentrale blasse Gebiet, das von einer stark durchbluteten Zone umgeben ist.« Er deutete auf einen kleinen, dunkelroten Fleck mit einem hellen Mittelpunkt, der sich von dem rotbraunen Gewebe des übrigen Herzmuskels abhob.
Pearson wandte sich an den chirurgischen Assistenten: »Stimmen Sie mit mir überein, Dr. Seddons, daß die Diagnose >Tod infolge Herzthrombose< damit glaubwürdig bestätigt ist?«
»Gewiß«, antwortete Seddons höflich. Daran besteht kein Zweifel, dachte er. Ein winziges Blutgerinnsel, nicht viel dicker als ein Stückchen Spaghetti. Das genügte für das Ende. Er beobachtete, wie der alte Pathologe das Herz beiseite legte.
Vivian war jetzt gefaßter. Sie glaubte, sich fest in der Hand zu haben. Am Anfang, als sie sah, wie die Säge in den Schädel des toten Mannes schnitt, hatte sie bemerkt, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich, wie ihr Bewußtsein verschwamm. Sie spürte, daß sie dicht vor einer Ohnmacht stand, war aber fest entschlossen, nicht schwach zu werden. Ohne jeden Grund erinnerte sie sich plötzlich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. In den Ferien war ihr Vater tief in den Wäldern Oregons in ein offenes Jagdmesser gefallen und hatte sich am Bein schwer verletzt. Überraschenderweise erlitt der kräftige Mann bei dem Anblick seines eigenen, hervorquellenden Blutes einen Schwächeanfall, und ihre Mutter, die sich in ihrem Wohnzimmer im allgemeinen sicherer und heimischer fühlte als im Wald, zeigte plötzlich eine unerwartete Stärke. Sie hatte am Bein abgebunden, den Blutstrom gestillt und Vivian schnell fortgeschickt, um Hilfe zu holen. Während Vivians Vater dann auf einer improvisierten Bahre aus Zweigen durch den Wald getragen wurde, lockerte sie alle halbe Stunde die Bandage, um die Durchblutung des Beines im Gang zu halten, zog sie dann wieder fest an, um die Blutung zu stillen. Später hatten die Ärzte gesagt, dadurch habe sie das Bein vor der Amputation gerettet. Vivian hatte dieses Erlebnis längst vergessen, aber als sie sich jetzt daran erinnerte, empfand sie neue Kraft. Nun war sie sicher, daß es für sie kein Problem mehr sei, bei einer Obduktion zuzusehen.
»Irgendeine Frage?« kam es von Dr. Pearson.
Vivian hatte eine. »Die Organe, die Sie aus dem Körper entfernen, was geschieht später mit ihnen, bitte?«
»Wir bewahren sie auf. Voraussichtlich für eine Woche. Das gilt für Herz, Lungen, Magen, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und das Gehirn. Dann nehmen wir eine Gesamtuntersuchung vor, deren Ergebnisse in allen Einzelheiten festgehalten werden. Gleichzeitig untersuchen wir auch die Organe, die bei anderen Obduktionen zurückbehalten wurden. Im allgemeinen sind es sechs bis zwölf Fälle.«
Das klingt so kalt und unpersönlich, dachte Vivian. Aber vielleicht mußte man so werden, wenn man das ständig tat. Unwillkürlich schauderte sie. Mike Seddons' Blick traf den ihren, und er lächelte ein wenig. Sie fragte sich, ob er sich über sie amüsiere oder Mitgefühl zeigen wolle. Sie war sich nicht sicher. Dann stellte ein anderes Mädchen eine Frage. Sie sprach sie zögernd aus, fast ab ob sie sich fürchte. »Der Tote, wie wird er begraben. nur so, wie er jetzt ist?«
Das war eine bekannte Frage. Pearson antwortete: »Das hängt davon ab. Lehrstätten wie unser Krankenhaus führen im allgemeinen gründlichere Studien durch, als es an Krankenhäusern geschieht, die keine Ärzte und Schwestern ausbilden. In unserem Krankenhaus wird nur die äußere Hülle der Leiche an den Bestatter übergeben.« Dann fügte er noch erläuternd hinzu: »Er würde es uns übrigens nicht danken, wenn wir die Organe wieder in den Körper hineinlegten. Er hätte dadurch nur Schwierigkeiten, wenn er die Leiche einsargt.«
Das ist richtig, dachte McNeil. Vielleicht ist es so nicht in der taktvollsten Weise ausgedrückt, aber es stimmt trotzdem. Er hatte sich selbst manchmal gefragt, ob die Hinterbliebenen und andere, die von einem Toten Abschied nehmen, wußten, wie wenig nach einer Obduktion von einer Leiche übrig war. Nach einer Obduktion wie der hier, und je nachdem, wie beschäftigt die pathologische Abteilung war, konnte es Wochen dauern, bis die inneren Organe endgültig beseitigt wurden. Und selbst dann wurden kleine Proben noch unendlich lange aufbewahrt.
»Gibt es dabei keine Ausnahme?« Die Lernschwester, die diese Frage stellte, schien hartnäckig zu sein. Pearson hatte aber offenbar nichts dagege n einzuwenden. Dem Anschein nach hat er heute seinen geduldigen Tag, dachte McNeil. Gelegentlich gab es das bei dem alten Mann.
»Doch, das kommt vor«, antwortete Pearson. »Ehe wir eine Obduktion vornehmen können, müssen wir die Genehmigung der Familie des Verstorbenen haben. Manchmal wird diese Genehmigung vorbehaltlos erteilt, wie in dem vorliegenden Fall, und dann können wir den ganzen Körper und den Kopf untersuchen. In anderen Fällen sind mit der Genehmigung Einschränkungen verbunden. Beispielsweise kann eine Familie verlangen, daß der Schädel unberührt bleibt. In unserem Krankenhaus werden diese Wünsche stets respektiert.«
»Danke, Doktor.« Anscheinend war das Mädchen zufrieden, aus welchen Gründen sie auch gefragt haben mochte.