O'Donnell stellte Hilton Pearson vor. Während die beiden Männer sich die Hände schüttelten, entglitt Pearson einer seiner Aktendeckel - und ein Stoß Papiere verstreute sich über den Boden. Grinsend sammelte Bill Rufus sie ein und schob den Aktendeckel Pearson wieder unter den Arm. Pearson nickte zum Dank und sagte dann unvermittelt zu Hilton: »Chirurg?«
»Ja, Sir«, antwortete Hilton höflich. Ein guterzogener junger Mann, dachte Lucy. Er zeigt vor älteren Leuten Respekt.
»Neuer Nachschub für die Knochenschlosser also«, sagte Pearson. Auf seine laut und scharf gesprochenen Worte legte sich eine plötzliche Stille über den Raum. Im allgemeinen wäre die Bemerkung als Scherz hingenommen worden, Pearsons Ton schien aber irgendwie eine Spitze, einen Anklang an Verachtung zu enthalten.
Hilton lachte. »So kann man es nennen«, antwortete er, aber Lucy erkannte, daß Pearsons Ton ihn überraschte.
»Machen Sie sich nichts aus Joes Scherzen«, sagte O'Donnell gutmütig. »Er hat etwas gegen Chirurgen. Nun? Können wir jetzt beginnen?«
Sie traten an den langen Tisch, die älteren des Ärztestabes nahmen automatisch die Stühle an dem Tisch ein, die anderen setzten sich in die hintere Reihe. Lucy selbst saß vorn. O'Donnell hatte den Platz am Kopfende des Tisches inne, Pearson mit seinen Papieren saß links von ihm. Während die anderen Platz nahmen, sah sie, wie Pearson wieder von seinem Sandwich abbiß. Er gab sich nicht die Mühe, es unauffällig zu tun.
Weiter unten am Tisch bemerkte sie Charlie Dornberger, einen der Geburtshelfer am Three Counties Hospital. Er stopfte sich andächtig und sorgfaltig seine Pfeife. Immer wenn Lucy Dr. Dornberger sah, schien er seine Pfeife entweder zu stopfen oder zu reinigen oder anzuzünden. Zu rauchen schien er sie selten. Dornberger gegenüber saß Gil Bartlett und neben ihm Dingdong Bell von der Röntgenabteilung und John McEwan. McEwan mußte heute an einem Fall interessiert sein, denn der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist nahm üblicherweise nicht an den chirurgischen Konferenzen teil.
»Wir wollen beginnen, meine Herren.« Während O'Donnell den Tisch entlang sah, verstummten die letzten Unterhaltungen. Er blickte in seine Notizen. »Der erste Fall. Samuel Lobitz, weiß, männlich, fünfunddreißig Jahre alt. Dr. Bartlett, bitte.«
Gil Bartlett, wie immer untadelhaft gekleidet, schlug sein Notizbuch auf. Unwillkürlich fixierte Lucy den gestutzten Bart, wartete darauf, daß er sich in Bewegung setzen würde. Fast sofort begann er auf- und abzuwippen. Mit ruhiger Stimme fing Bartlett an: »Der Patient wurde am 12. Mai an mich
überwiesen.«
»Etwas lauter, Gil.« Die Bitte kam vom anderen Ende des Tisches.
Bartlett hob seine Stimme etwas. »Ich will es versuchen. Aber vielleicht gehen Sie nachher mal zu Dr. McEwan.« Ein Gelächter lief um den Tisch, dem sich der Hals-, Nasen- und Ohren-Mann anschloß.
Lucy beneidete alle, die bei diesen Sitzungen unbefangen sein konnten. Sie war es nie, besonders dann nicht, wenn einer ihrer eigenen Fälle besprochen wurde. Es war für jeden eine Belastung, seine Diagnose darzulegen und die Behandlung eines Patienten zu schildern, der gestorben war, anschließend die Meinungen anderer und schließlich den Obduktionsbefund des Pathologen anzuhören. Und Joe Pearson schonte niemals jemanden.
Es gab ehrliche Fehler, die jedem Mediziner unterlaufen konnten - selbst wenn es mitunter Fehler waren, die dem Patienten das Leben kosteten. Nur wenige Ärzte konnten im Laufe ihrer Tätigkeit diesen Fehlern völlig entgehen. Das wichtigste war, daraus zu lernen und den gleichen Fehler nicht zu wiederholen. Das war der Grund, weshalb diese Konferenzen über die Sterbefälle abgehalten wurden: damit jeder, der daran teilnahm, daraus lernte.
Gelegentlich waren die Fehler unentschuldbar, und man konnte es immer spüren, wenn ein derartiger Fall bei den monatlichen Zusammenkünften zur Sprache kam. Dann herrschte ein unbehagliches Schweigen, und man vermied, einander anzusehen. Selten kam es zu offener Kritik, weil sie überflüssig war, und ferner, weil keiner wissen konnte, wann er selbst ihr einmal unterworfen werden würde.
Lucy erinnerte sich an einen Vorfall, der einen angesehenen Chirurgen an einem anderen Krankenhaus betraf, in dem sie früher tätig gewesen war. Der Chirurg operierte einen Patienten im Unterleib, weil er den Verdacht auf Krebs an den Verdauungsorganen hegte. Als er das erkrankte Gebiet erreichte, kam er zu der Ansicht, daß der Fall nicht mehr zu operieren sei, und statt zu versuchen, die Geschwulst zu entfernen, stellte er eine neue Verbindung des Dünndarms zum Dickdarm her, um die Geschwulst zu umgehen. Drei Tage später war der Patient tot, und bei der Obduktion zeigte sich, daß überhaupt kein Krebs vorlag. Der Blinddarmfortsatz des Patienten war durchgebrochen und hatte einen Abszeß verursacht. Der Chirurg hatte das nicht erkannt und dadurch den Mann zum Tode verurteilt. Lucy würde nie die entsetzte Totenstille vergessen, mit der der Bericht des Pathologen aufgenommen worden war.
Über Fälle dieser Art dringt natürlich nie etwas an die Öffentlichkeit. Das sind Augenblicke, in denen sich die Mediziner fest zusammenschließen. Aber in guten Krankenhäusern ist es damit nicht getan. Im Three Counties Hospital führte O'Donnell jetzt mit jedem, der sich derartiges zuschulden kommen ließ, ein Gespräch unter vier Augen, und wenn es ein böser Fall war, wurde der Schuldige für einige Zeit streng kontrolliert. Lucy selbst hatte nie ein derartiges Gespräch führen müssen, aber sie hatte gehört, daß der Chef der Chirurgie hinter verschlossenen Türen außerordentlich scharf werden konnte.
Gil Bartlett berichtete weiter: »Der Fall wurde mir von Dr. Cymbalist überwiesen.« Lucy wußte, daß Cymbalist ein praktischer Arzt in Burlington war, der selbst nicht zum Three Counties Hospital gehörte. Auch ihr selbst waren von ihm schon Patienten überwiesen worden.
»Dr. Cymbalist rief mich zu Hause an«, sagte Bartlett, »und teilte mir mit, er vermute ein durchgebrochenes Magengeschwür. Die von ihm beschriebenen Symptome schienen seine Diagnose zu bestätigen. Inzwischen befand sich der Patient in einem Krankenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich rief den diensthabenden Assistenzarzt in der Chirurgie an und benachrichtigte ihn von dem Eintreffen des Patienten.«
Dr. Bartlett sah in seine Notizen. »Ich selbst sah den Patienten ungefähr eine halbe Stunde später. Er hatte starke Schmerzen im Oberbauch und befand sich im Schockzustand. Sein Blutdruck war siebzig über vierzig. Er war aschgrau und von kaltem Schweiß bedeckt. Ich verordnete eine Transfusion, um dem Schock entgegenzuwirken, und Morphium. Bei der Untersuchung erwies sich der Leib als hart und als schmerzempfindlich bei Druck.«
Bill Rufus fragte: »Haben Sie eine Durchleuchtung des Brustkorbes vorgenommen?«
»Nein. Der Patient erschien mir zu krank, um ihn erst noch in die Röntgenabteilung zu schaffen. Ich stimmte mit Dr. Cymbalists Diagnose auf ein durchgebrochenes Magengeschwür überein und entschloß mich, sofort zu operieren.«
»Überhaupt keine Zweifel, Doktor?« Diesmal kam die Zwischenfrage von Pearson. Bisher hatte der Pathologe in seine Papiere gesehen. Jetzt wandte er sein Gesicht Bartlett zu.
Einen Augenblick zögerte Bartlett, und Lucy dachte: Etwas ist hier falsch. Die Diagnose war ein Irrtum, und Joe Pearson wartet darauf, eine Falle zuschlagen zu lassen. Dann fiel ihr ein, daß alles, was Pearson wußte, inzwischen auch Bartlett wissen mußte, es ihn also nicht mehr überraschen konnte. Auf jeden Fall hatte Bartlett vermutlich der Obduktion beigewohnt. Das taten die meisten gewissenhaften Chirurgen, wenn einer ihrer Patienten starb. Nach der kurzen Pause fuhr der Chirurg unbeirrt fort:
»Man hat in diesen dringenden Notfällen immer Zweifel, Dr. Pearson. Aber ich kam zu der Überzeugung, daß alle Symptome eine sofortige Probelaparatomie rechtfertigten.« Bartlett machte eine Pause. »Allerdings war kein aufgebrochenes Geschwür vorhanden, und der Patient wurde anschließend in ein Krankenzimmer gebracht. Ich zog Dr. Toynbee zu einer Konsultation hinzu, aber noch ehe er eintraf, starb der Patient.«