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Gil Bartlett schloß sein Notizbuch und sah sich an dem Tisch um.

Die Diagnose war also falsch gewesen, und trotz Bartletts äußerlich ruhigem Auftreten wußte Lucy, daß er innerlich wahrscheinlich unter quälenden Selbstvorwürfen litt. Auf Grund der vorliegenden Symptome konnte allerdings zweifellos gesagt werden, daß die Operation gerechtfertigt war.

Jetzt wandte sich O'Donnell an Joe Pearson. Höflich bat er: »Wollen Sie uns jetzt bitte den Obduktionsbefund mitteilen.« Lucy überlegte, daß der Chef der Chirurgie zweifellos schon wußte, was kam. Automatisch sahen die Abteilungsleiter Obduktionsberichte vor sich, die ihre eigenen Mitarbeiter betrafen.

Pearson blätterte in seinen Papieren, zog dann eines hervor. Seine Blicke schossen um den Tisch herum. »Wie Dr. Bartlett Ihnen mitteilte, lag kein durchgebrochenes Magengeschwür vor. Tatsache ist, daß der Leib völlig normal war.« Wie um der dramatischen Wirkung willen machte er eine Pause, ehe er fortfuhr: »Dagegen lag im Brustraum eine Lungenentzündung im frühen Stadium vor. Zweifellos hatte sie heftige Schmerzen am Rippenfell verursacht.«

Das war es also. Lucy überdachte noch einmal alle angeführten Symptome. Es stimmte. Äußerlich mußten sie in beiden Fällen identisch sein. O'Donnell fragte: »Wünscht jemand das Wort?«

Es folgte ein unbehagliches Schweigen. Ein Fehler war unterlaufen, aber er konnte nicht als fahrlässig bezeichnet werden. Den meisten in dem Raum war in bedrückender Weise bewußt, daß ihnen das gleiche widerfahren konnte. Bill Rufus sprach es aus. »Bei den beschriebenen Symptomen würde ich sagen, daß die Probelaparatomie gerechtfertigt war.«

Darauf hatte Pearson gewartet. Er begann nachdenklich: »Nun, ich weiß nicht recht.« Dann warf er fast beiläufig ohne jede Warnung wie eine Handgranate die Worte hin: »Es ist uns allen gut bekannt, daß Dr. Bartlett selten über die Bauchhöhle hinaussieht.« Dann schoß er in dem drückenden Schweigen direkt auf Bartlett die Frage ab: »Haben Sie die Brust überhaupt untersucht?«

Seine Bemerkung und seine Frage waren eine Ungeheuerlichkeit. Selbst wenn Bartlett ein Vorwurf gemacht werden konnte, war das O'Donnells Aufgabe, aber nicht Pearsons, und außerdem hatte es unter vier Augen zu geschehen. Bartlett stand keineswegs im Ruf der Sorglosigkeit. Alle, die mit ihm gearbeitet hatten, kannten ihn als gründlich, und wenn überhaupt etwas an ihm auszusetzen war, dann, daß er zu übertriebener Vorsicht neigte. In diesem Fall hatte er offensichtlich vor der Notwendigkeit einer schnellen Entscheidung gestanden.

Bartlett sprang auf. Sein Stuhl scharrte, als er ihn zurückstieß, sein Gesicht war dunkelrot. »Selbstverständlich habe ich die Brust untersucht.« Er bellte die Worte heraus, mit auf- und abwippendem Bart. »Ich habe bereits erklärt, daß der Patient in einem Zustand war, der eine Brustdurchleuchtung nicht erlaubte. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre.«

»Meine Herren, meine Herren!« Das war O'Donnell. Aber Bartlett ließ sich nicht unterbrechen.

»Es ist sehr leicht, es nachher besser zu wissen, und Dr. Pearson versäumt keine Gelegenheit, uns das zu zeigen.«

Von der anderen Seite des Tisches winkte Charlie Dornberger mit seiner Pfeife. »Ich glaube nicht, daß Dr. Pearson beabsichtigte.«

Wütend unterbrach Bartlett ihn: »Natürlich glauben Sie das nicht. Sie sind ja auch sein Freund. Und außerdem: die Geburtshelfer verfolgt er nicht mit seiner Blutrache.«

»Meine Herren, das kann ich nicht zulassen.« O'Donnell stand jetzt auch und schlug hart auf den Tisch. Er hatte die Schultern zurückgenommen, und seine athletische Gestalt ragte über die Sitzenden an dem Tisch hoch hinaus. Lucy dachte, er ist ein richtiger Mann. »Dr. Bartlett, würden Sie die Güte haben, sich wieder zu setzen.« Er wartete stehend, bis Bartlett seinen Platz wieder eingenommen hatte.

O'Donnells äußere Erregung ließ seinen Zorn erkennen. Joe Pearson hatte kein Recht, die Konferenz in dieser Weise zu gefährden. O'Donnell wußte, daß die Diskussion jetzt nicht mehr ruhig und sachlich geführt werden konnte; er mußte sie abbrechen. Es kostete ihn große Überwindung, seinem Ärger über Joe Pearson nicht sofort Luft zu machen, aber ihm war bewußt, daß er die Lage dadurch nur verschärfen würde.

O'Donnell teilte nicht Bill Rufus' Ansicht, daß Gil Bartlett für den Todesfall kein Vorwurf gemacht werden konnte. Er neigte zu einer kritischeren Haltung. Der Schlüsselfaktor des Falles lag in dem Versäumnis, die Brust des Patienten zu röntgen. Wenn Bartlett bei der Einlieferung eine Röntgenaufnahme angeordnet hätte, bestand die Möglichkeit, nach Anzeichen für eine Gasbildung oberhalb der Leber und unter dem Zwerchfell zu suchen. Das waren eindeutige Hinweise auf ein durchgebrochenes Geschwür. Ihr Fehlen wäre Bartlett zweifellos nicht entgangen. Ferner hätte das Röntgenbild auch eine Verschattung der Lungenbasis gezeigt und auf die Lungenentzündung hingewiesen, die Joe Pearson später bei der Obduktion feststellte. Der eine oder der andere dieser Faktoren hätte Bartlett leicht dazu veranlassen können, seine Diagnose zu berichtigen, und damit wären die Aussichten des Patienten, am Leben zu bleiben, gestiegen.

Gewiß, überlegte O'Donnell, Bartlett hatte behauptet, der Patient sei für die Durchleuchtung zu krank gewesen. Wenn der Mann aber tatsächlich so krank war, durfte Bartlett dann überhaupt die Operation wagen? O'Donnell war der Ansicht, er hätte nicht mehr operieren dürfen.

O'Donnell wußte, daß bei einem durchgebrochenen Geschwür üblicherweise innerhalb von vierundzwanzig Stunden operiert werden muß. Nach dieser Zeit war die Sterblichkeitsrate mit der Operation höher als ohne sie, weil die ersten vierundzwanzig Stunden die gefährlichsten sind. Wenn der Patient sie überlebte, waren die eigenen Abwehrkräfte des Körpers geweckt, um den Durchbruch zu schließen. Nach den von Bartlett geschilderten Symptomen schien es wahrscheinlich, daß der Patient die Vierundzwanzig-Stunden-Grenze fast erreicht oder gar schon überschritten hatte. In diesem Fall hätte O'Donnell selbst den Patienten nicht mehr operiert, in der Absicht, später eine endgültige Diagnose zu stellen. Auf der anderen Seite war sich O'Donnell bewußt, daß es in der Medizin hinterher feicht war, alles besser zu wissen. Man befand sich aber in einer ganz anderen Situation, wenn das Leben des Patienten auf dem Spiele stand und man auf der Stelle eine dringliche Diagnose stellen mußte.

Alles dies hätte der Chef der Chirurgie in der üblichen Weise auf der Sterblichkeitskonferenz vorgebracht, ruhig und objektiv. Er hätte Gil Bartlett veranlaßt, den einen oder anderen Punkt selbst anzuführen. Bartlett war ehrlich und fürchtete sich nicht vor einer kritischen Selbstüberprüfung. Die fraglichen Punkte, auf die es ankam, wären jedem anschaulich geworden. Dazu war nicht erforderlich, daß jemand heftig wurde oder Vorwürfe gemacht wurden. Für Bartlett wäre es selbstverständlich kein Vergnügen gewesen, er wäre aber auch nicht gedemütigt worden. Und noch wichtiger: die Diskussion hätte O'Donnells Zielen gedient, und dem ganzen chirurgischen Stab wäre durch einen praktischen Fall die Notwendigkeit für verschiedene diagnostische Methoden nachdrücklich vor Augen gehalten worden.

Das konnte jetzt nicht mehr geschehen. Brachte O'Donnell in diesem Stadium noch die Punkte vor, die ihm vorschwebten, hätte es den Anschein gehabt, als ob er Pearson unterstütze, und dadurch hätte sich eine noch schärfere Verurteilung Bartletts ergeben. Das durfte um Bartletts eigener Moral wegen nicht geschehen. Selbstverständlich mußte er mit Bartlett privat sprechen, aber die Möglichkeit zu einer wertvollen, offenen Diskussion war verloren. Dieser verdammte Joe Pearson!