Nun hatte sich die Erregung gelegt. O'Donnells Auf-den-Tisch-Klopfen - ein seltenes Ereignis - hatte gewirkt. Bartlett hatte sich wieder gesetzt, sein Gesicht immer noch wütend gerötet. Pearson war anscheinend in seine Papiere vertieft, in denen er blätterte.
»Meine Herren.« O'Donnell wartete. Er wußte, was er zu sagen hatte. Es mußte knapp und präzise sein. »Ich brauche wohl kaum auszusprechen, daß niemand von uns eine Wiederholung dieses Vorfalles zu erleben wünscht. Die Sterblichkeitskonferenz dient zum Erfahrungsaustausch, nicht zu persönlichen Vorwürfen oder erhitzten Auseinandersetzungen. Dr. Pearson, Dr. Bartlett, ich hoffe, mich verständlich ausgedrückt zu haben.« O'Donnell sah beide an und verkündete dann, ohne auf eine Zustimmung oder Antwort zu warten: »Den nächsten Fall, bitte.«
Es standen noch vier weitere Fälle auf der Tagesordnung, aber keiner bot etwas Ungewöhnliches, und die Diskussion verlief ruhig. Das ist ganz gut, dachte Lucy. Auseinandersetzungen, wie die vorangegangene, waren nicht geeignet, die Moral der Ärzte zu fördern. Man kam immer wieder in die Zwangslage, eine dringliche Diagnose zu stellen. Das verlangte Mut. Selbstverständlich rechnete man damit, auch wenn man sich unglücklicherweise geirrt hatte, daß man sich dafür verantworten mußte. Persönliche Angriffe aber waren etwas anderes. Kein Chirurg brauchte es sich bieten zu lassen, wenn er nicht grob fahrlässig handelte oder einfach unfähig war.
Lucy fragte sich nicht zum erstenmal, wie viele von Joe Pearsons Zensuren gelegentlich auf persönlichen Motiven beruhten. Heute war Joe Pearson gegen Gil Bartlett ungehobelter vorgegangen, als sie es je bei einer Sterblichkeitskonferenz erlebt hatte, obwohl es sich weder um ein fahrlässiges Versehen handelte noch Bartlett häufig Irrtümer unterliefen. Er hatte am Three Counties Hospital manche gute Arbeit geleistet, besonders bei verschiedenen Krebsformen, die man noch vor kurzer Zeit für unoperierbar hielt.
Pearson wußte das natürlich auch. Warum also diese Feindschaft? War der Grund, daß Gil Bartlett in der Medizin etwas darstellte, worum Pearson ihn beneidete und was er nie erreicht hatte? Sie sah über den Tisch zu Bartlett hinüber. Seine Züge waren starr; er hatte seine Erregung noch nicht überwunden. Im allgemeinen war er gelassen, umgänglich, liebenswürdig, alles Eigenschaften, die man bei einem erfolgreichen Mann von Anfang Vierzig erwarten konnte. Gil Bartlett und seine Frau waren bekannte Erscheinungen in der Burlingtoner Gesellschaft. Lucy hatte erlebt, wie unbefangen er auf Cocktailpartys und in den Heimen seiner reichen Patienten auftrat. Seine Praxis ging sehr gut. Lucy vermutete, daß sein jährliches Einkommen bei fünfzigtausend Dollars lag.
War das der Punkt, der Joe Pearson stach? Jenen Joe Pearson, der nie neben dem Glanz eines Chirurgen standhalten konnte? Dessen Arbeit wichtig war, aber undramatisch verlief? Der einen Zweig der Medizin gewählt hatte, der selten an das Licht der Öffentlichkeit gelangt? Lucy selbst hatte Leute fragen hören: »Was macht ein Pathologe eigentlich?« Niemand fragte jemals: »Was macht ein Chirurg?« Sie wußte, daß es Leute gab, die einen Pathologen für eine Art medizinischen Assistenten hielten, die nicht wußten, daß ein Pathologe zunächst einmal ein Arzt mit einem vollen, abgeschlossenen medizinischen Studium sein muß, ehe er die zusätzlichen Ausbildungsjahre auf sich nehmen kann, um ein hochqualifizierter Spezialist zu werden.
Auch das Geld war manchmal ein wunder Punkt. Im Stab des Three Counties Hospitals hatte Gil Bartlett die Stellung eines Belegarztes inne, der kein Gehalt von dem Krankenhaus erhielt, sondern von seinen Patienten bezahlt wurde. Lucy selbst und alle anderen Belegärzte waren auf der gleichen Basis Mitglieder des Krankenhausstabes. Aber im Gegensatz dazu war Joe Pearson Angestellter des Krankenhauses, der ein Jahresgehalt von fünfundzwanzigtausend Dollars erhielt, ungefähr die Hälfte dessen, was ein erfolgreicher Chirurg, der viele Jahre jünger war als er, verdienen konnte. Lucy hatte einmal die etwas zynische Zusammenfassung des Unterschiedes zwischen einem Chirurgen und einem Pathologen gelesen:
»Ein Chirurg erhält fünfhundert Dollars dafür, daß er einen Tumor entfernt. Der Pathologe erhält fünf Dollars dafür, daß er den Tumor untersucht, die Diagnose stellt, die Weiterbehandlung empfiehlt und die Zukunft des Patienten voraussagt.«
Lucy selbst kannte in ihrer Zusammenarbeit mit Joe Pearson keine Schwierigkeiten. Aus Gründen, die sie selbst mit Sicherheit nicht nennen konnte, schien er sie zu mögen, und es gab Augenblicke, in denen sie ähnliches empfand und seine Sympathie erwiderte. Das erwies sich manchmal als Hilfe, wenn sie mit ihm über eine Diagnose sprechen mußte.
Nun wurde die Diskussion beendet. O'Donnell schloß die Sitzung. Lucy wendete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Sie hatte während des letzten Falles ihre Gedanken abschweifen lassen. Das war nicht gut. Sie mußte auf sich selbst aufpassen. Alle hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Joe Pearson hatte seine Papiere aufgenommen und schlurfte hinaus. O'Donnell hielt ihn an. Sie sah, wie der Chef der Chirurgie den alten Mann auf die Seite zog.
»Kommen Sie einen Augenblick mit hier hinein.« O'Donnell öffnete die Tür zu einem kleinen Büro. Es grenzte an den Sitzungssaal und wurde manchmal für Ausschußsitzungen verwendet. Jetzt war es unbenutzt. Pearson folgte dem Chef der Chirurgie.
O'Donnell sprach vorsätzlich unbetont. »Joe, ich bin der Ansicht, Sie sollten die Kollegen bei diesen Sitzungen nicht in dieser Weise attackieren.«
»Warum?« Pearsons Frage war geradezu.
Nun gut, dachte O'Donnell, wenn Sie es so haben wollen. Laut sagte er: »Weil es zu nichts führt.« Er gab seiner Stimme einen scharfen Ton. Im allgemeinen brachte er den Altersunterschied zum Ausdruck, wenn er mit dem alten Mann sprach, aber in diesem Augenblick mußte er seine eigene Autorität wahren. Wenn O'Donnell auch als Chef der Chirurgie keine unmittelbare Kontrolle über Pearsons Tätigkeit ausübte, so besaß er doch gewisse Vorrechte, wenn sich die Arbeit der Pathologie auf seinen eigenen Bereich bezog.
»Ich habe eine falsche Diagnose klargestellt. Das ist alles.« Jetzt war Pearson selbst aggressiv. »Wollen Sie sagen, daß wir über derartige Dinge schweigen sollen?«
»Sie wissen selbst, wie unsinnig diese Frage ist.« O'Donnells Antwort klang scharf, er bemühte sich diesmal nicht, die harte Kälte in seiner Stimme zu mildern. Er sah, wie Pearson zögerte, und nahm an, daß der alte Mann erkannte, er sei zu weit gegangen.
Knurrend räumte Pearson ein: »So habe ich es auch nicht gemeint.«
Gegen seinen Willen lächelte Kent O'Donnell. Sich zu entschuldigen fiel Joe Pearson nicht leicht. Diese Äußerung mußte ihn einiges gekostet haben. Etwas ruhiger fuhr O'Donnell fort: »Ich meine, daß es bessere Methoden gibt, Joe. Wenn Sie damit einverstanden sind, bin ich dafür, daß Sie bei den Konferenzen den Obduktionsbefund bekanntgeben und es mir überlassen, die anschließende Diskussion zu leiten. Ich glaube, wir können dann diskutieren, ohne daß jemand herausgefordert wird.«
»Ich sehe nicht ein, warum sich jemand herausgefordert sah.«
Pearson knurrte immer noch, aber O'Donnell bemerkte, daß er nachgab.
»Wie dem auch sei, Joe. Ich möchte die Sitzungen auf meine Weise leiten.« Ich will ihm nicht zu hart zusetzen, dachte O'Donnell, aber diesmal muß ich ihm die Lage eindeutig klarmachen.
Pearson hob die Schultern. »Wenn Sie es unbedingt wollen.«
»Danke, Joe.« O'Donnell erkannte, daß er gewonnen hatte. Es war leichter gegangen, als er erwartet hatte. Vielleicht war das eine günstige Gelegenheit, eine andere Frage aufzuwerfen. »Da wir schon zusammen sind, Joe, ich habe noch etwas.«
»Ich habe viel zu tun. Hat das nicht Zeit?« Als Pearson antwortete, konnte O'Donnell fast seine Gedanken lesen. Der Pathologe brachte klar zum Ausdruck, daß er seine Unabhängigkeit nicht aufgegeben hatte, weil er in diesem einen Punkt nachgab.