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Es gab Ausnahmen. Ein paar der Ärzte widersetzten sich hin und wieder dieser formlosen Ausnutzung ihrer mühevoll erworbenen Kenntnisse und verwahrten sich gegen die Versuche von Kollegen, sich in die Diskussion bestimmter Fälle hineinziehen zu lassen. Bei solchen Gelegenheiten war ihre übliche Antwort: »Das beste wäre, wenn Sie mich in meiner Praxis aufsuchen. Dann läuft auch das Tachometer.«

Gil Bartlett war einer, der diese Versuche mißbilligte, und mitunter zeigte er sich bei der Ablehnung dieser nebenbei erteilten Beratungen sehr unverblümt. Eine Anekdote, die über seine persönliche Abwehrtaktik erzählt wurde, spielte nicht in der Kantine, sondern bei einer Cocktailparty in einem Privathaus. Seine Gastgeberin, eine große Dame der Burlingtoner Gesellschaft, hatte Bartlett am Knopf festgehalten und ihn mit Fragen über ihre wirklichen und eingebildeten Leiden überschüttet. Bartlett hatte eine Weile zugehört und dann mit lauter Stimme, die den überfüllten Salon zum Schweigen brachte, verkündet: »Gnädige Frau, nach dem, was Sie mir sagen, scheinen Sie an Menstruationsbeschwerden zu leiden. Wenn Sie sich bitte freimachen wollen, werde ich Sie gleich untersuchen.«

In den meisten Fällen akzeptierten die Ärzte jedoch, sosehr sie sich sonst gegen formlose Konsultationen außerhalb des Krankenhauses verwahrten, den Meinungsaustausch in der Kantine auf Grund der Tatsache, daß jeder dabei ebensoviel gewann, wie er verlieren konnte. Und manche Ärzte des Krankenhauses verwendeten den schon reichlich abgestandenen Scherz: »Ich bin in meiner zweiten Sprechstunde«, wenn sie hinterließen, wo sie zu finden waren. Damit war keine weitere Erklärung erforderlich.

Im allgemeinen war die Kantine ein demokratisches Gebiet, wo die Hierarchie des Krankenhauses, wenn auch nicht vergessen, so doch zumindest zeitweise ignoriert wurde. Eine Ausnahme bildete vielleicht die Gepflogenheit, eine Gruppe von Tischen nur den Ärzten vorzubehalten. Mrs. Straughan, die Küchenleiterin, kontrollierte dieses Gebiet regelmäßig, weil sie wußte, daß selbst geringfügige Verstöße gegen die Sauberkeit oder Mängel in der Bedienung zu scharfen Beschwerden auf der nächsten Sitzung des medizinischen Ausschusses führen würden.

Mit wenigen Ausnahmen benutzten die älteren Ärzte die reservierten Tische. Der Hausstab dagegen nahm es weniger genau, und die Assistenzärzte und Praktikanten dokumentierten mitunter ihre Unabhängigkeit, indem sie sich den Schwestern oder anderen Gruppen anschlossen. Es war also nichts Ungewöhnliches daran, daß sich Mike Seddons gegenüber von Vivian Loburton niederließ, die, früher als ihre Mitlernschwestern von einer Arbeit entlassen, allein vor ihrem Mittagessen saß.

Seit sie sich vor zehn Tagen im Obduktionsraum begegnet waren, hatte Vivian Mike Seddons verschiedentlich im Krankenhaus gesehen, und bei jeder Gelegenheit hatte er ihr -seine störrische rote Mähne und sein breites Grinsen von Ohr zu Ohr - besser gefallen. Intuitiv hatte sie erwartet, daß er sich ihr bald unmittelbar nähern würde, und hier war er also.

»Hallo«, sagte Seddons.

»Hallo.« Vivians Gruß klang etwas undeutlich, denn sie hatte gerade mit gesundem Appetit in ein Hühnerbein gebissen. Sie deutete auf ihren Mund und muffelte: »Entschuldigen Sie.«

»Macht gar nichts«, sagte Seddons. »Lassen Sie sich Zeit. Ich sitze hier, um Ihnen einen Antrag zu machen.«

Sie schluckte den Bissen Huhn hinunter und sagte dann: »Ich dachte immer, das käme später.«

Mike Seddons grinste. »Haben Sie noch nichts davon gehört? Wir leben im Düsenzeitalter. Keine Zeit mehr zu Formalitäten. Hier ist mein Antrag: Übermorgen ins Theater, vorher Abendessen im Cuban Grill.«

Vivian fragte vorsichtig: »Können Sie sich das leisten?« Zwischen den angestellten Ärzten und den Lernschwestern war Geldmangel ein in Ehren grau gewordenes Gebiet für klägliche Witze.

Seddons senkte seine Stimme zu einem Bühnenflüstern. »Verraten Sie es keiner Seele. Aber ich habe eine Quelle für Nebeneinnahmen gefunden. Die Patienten, die zur Obduktion kommen... Viele haben Goldzähne... Es ist ganz einfach...«

»Oh, hören Sie auf! Sie verderben mir den Appetit.« Sie biß wieder in ihr Hühnerbein, und Seddons griff über den Tisch und nahm sich zwei ihrer Pommes frites.

Mit Genuß kaute er. »Hm, hm, nicht schlecht. Ich muß öfter essen. Die Geschichte ist folgende.« Er zog zwei Theaterbillets aus der Tasche und einen vorgedruckten Gutschein. »Sehen Sie sich das an. Die Anerkennung eines dankbaren Patienten.« Die Billets waren für eine Gastvorstellung eines BroadwayMusicals. Der Gutschein galt für ein Abendessen für zwei Personen im Cuban Grill.

»Was haben Sie angefangen?« Vivian zeigte offen ihre Neugier. »Eine Herzoperation?«

»Nein. Vergangene Woche sprang ich für eine halbe Stunde für Frank Worth in der Unfallambulanz ein. Ein Mann mit einem bösen Schnitt an der Hand kam, den ich nähte. Ein paar Tage später brachte mir die Post das hier.« Er lachte. »Worth ist jetzt natürlich wütend. Er sagt, er wird nie wieder seinen Posten verlassen. Kommen Sie mit?«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Vivian aufrichtig.

»Großartig. Ich werde Sie um sieben Uhr im Schwesternheim abholen. Alles klar?« Während er sprach, betrachtete Mike Seddons das Mädchen mit noch größerem Interesse als bisher. Plötzlich war ihm bewußt, daß sie sehr vieles mehr als nur ein hübsches Gesicht und eine gute Figur hatte. Wenn sie ihn ansah und lächelte, löste sie in ihm die Empfindung von etwas Warmem und Duftigem aus. Er sagte: »Schade, daß ich Sie nicht schon heute, sondern erst übermorgen treffe. Bis dahin ist noch so lang.« Dann gab ihm eine schwache, warnende Stimme zu bedenken: Vorsicht vor Bindungen. Vergiß nicht Seddons Politik: Liebe sie und lasse sie. Sei glücklich mit den Erinnerungen. Sich trennen ist süß und schmerzlich, aber es ist sehr praktisch, wenn man sich nicht binden will.

»Gut«, antwortete Vivian. »Ich komme vielleicht ein paar Minuten später, aber nicht sehr lange.«

Anderthalb Wochen waren vergangen, seit Harry Tomaselli O'Donnell mitgeteilt hatte, daß geplant wurde, im Frühjahr mit dem Erweiterungsbau des Krankenhauses zu beginnen. Jetzt trafen er und Kent ODonnell mit Orden Brown im Büro des Verwaltungsdirektors zusammen, um über die unmittelbar nächsten Schritte zu beraten.

Vor Monaten hatten die drei gemeinsam mit einem Architekten detaillierte Pläne für jede Abteilung ausgearbeitet, die in dem neuen Flügel untergebracht werden sollte. Die Wünsche der Leiter der medizinischen Abteilungen mußten auf die Mittel, die vermutlich zur Verfügung standen, abgestimmt werden. Orden Brown hatte als Schiedsrichter gewirkt und O'Donnell als medizinischer Berater. Wie immer war der Vorsitzende knapp und entschieden gewesen, aber seine grundsätzliche Härte wurde durch seinen Humor gemildert. Manchmal hatten sie allem zugestimmt, was verlangt wurde. In anderen Fällen, wenn sie vermuteten, daß einer sich aus eigensüchtigen Gründen ein Reich aufbauen wollte, hatten sie schonungslos den Gründen für die Wünsche nachgeforscht.

Einer der Abteilungsleiter, der Chefapotheker, hatte hartnäckig daraufgedrängt, daß in dem Entwurf für sein Arbeitszimmer eine eigene Toilette vorgesehen werden solle. Als der Architekt darauf hinwies, daß ausreichende, allgemein zugängliche sanitäre Einrichtungen zwölf Meter weiter im Gang lagen, hatte der Apotheker sich nicht gescheut, dem entgegenzuhalten, zwölf Meter seien ein langer Weg, wenn man unter einem der periodischen Anfälle von Durchfall leide. Darauf hatte Orden Brown nur trocken bemerkt, im Krankenhaus gebe es eine Abteilung für innere Medizin.