»Ja«, antwortete Coleman, »ich habe die Absicht.«
Er nahm die Krankengeschichte und ging in das Zimmer, das an den Obduktionsraum grenzte. Aus dem Kühlschrank der Leichenkammer nahm er das Bein und begann die Gazeumhüllungen zu entfernen. Das Fleisch war kalt und weich, das Blut, wo das Glied in der Mitte des Oberschenkels abgetrennt worden war, geronnen. Er tastete nach dem Tumor und fand ihn sofort. Einen harten Klumpen an der Innenseite gerade unterhalb des Knies. Er nahm ein Messer und schnitt tief hinein. Sein Interesse wuchs bei dem, was er fand.
Der Diener nahm Kent O'Donnells Hut und Mantel entgegen, hängte beides in einen Schrank in der finsteren, vornehmen Halle. O'Donnell sah sich um und fragte sich verwundert, warum wohl jemand - reich oder nicht - in dieser Umgebung freiwillig lebte. Dann überlegte er, daß diese kahle Weitläufigkeit, diese schweren Deckenbalken und diese hohe Täfelung, diese Wände aus kaltem, behauenem Stein einem Mann wie Eustace Swayne vermutlich das Gefühl einer feudalen Macht verliehen und für ihn eine Brücke durch die Geschichte zu alten Zeiten und versunkenen Stätten bildete. O'Donnell fragte sich, was aus dem Haus werden würde, wenn der alte Mann starb. Höchstwahrscheinlich ein Museum oder eine Kunstgalerie, vielleicht würde es auch nur leerstehen und verfallen wie viele Häuser dieser Art. Daß jemand anders die Absicht haben könnte, darin zu leben, erschien ihm unvorstellbar. Es war ein Haus, bei dessen Anblick man sich sagen mußte, daß sein Eingang um fünf Uhr nachmittags abgeschlossen wurde und bis zum nächsten Morgen verschlossen blieb. Dann erinnerte er sich, daß Denise ihre Kindheit innerhalb dieser düsteren Wände verbracht haben mußte. Ob sie hier glücklich gewesen war? fragte er sich.
»Mr. Swayne ist heute etwas erschöpft, Sir. Er läßt fragen, ob Sie etwas dagegen haben, wenn er Sie in seinem Schlafzimmer empfängt.«
»Keineswegs«, antwortete O'Donnell. Ihm kam der Gedanke, daß das Schlafzimmer für das, was er zu sagen hatte, vielleicht der geeignetste Ort war. Falls Eustace Swayne infolge der Unterhaltung einen Schlaganfall erlitt, war wenigstens gleich der richtige Platz da, um ihn hinzulegen. Er folgte dem Diener die breite, geschwungene Treppe hinauf und einen Korridor entlang. Ihre Schritte wurden durch dicke Läufer gedämpft. Der Diener klopfte leise an eine schwere, geschnitzte Tür, drückte auf die schmiedeeiserne Klinke und ließ O'Donnel in das geräumige Zimmer eintreten.
Zunächst konnte O'Donnell Eustace Swayne nicht sehen. Sein Blick wurde von einem massiven Kamin festgehalten, in dem ein Holzfeuer loderte. Die Wärme des Feuers traf ihn wie ein Schlag; der Raum war an dem an sich schon warmen Vormittag im späten August fast unerträglich warm. Dann erkannte er Swayne, von Kissen gestützt, in einem riesigen Bett mit vier Pfosten. Um seine Schultern lag ein Morgenmantel mit Monogramm. Als O'Donnell näher trat, bemerkte er mit einem Schock, wie sehr der alte Mann seit ihrer ersten Begegnung -dem Abend mit Orden Brown und Denise - verfallen war.
»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte Swayne. Auch seine Stimme klang schwächer als früher. Er bedeutete seinem Besucher, auf einem Stuhl neben dem Bett Platz zu nehmen.
Während O'Donnell sich setzte, sagte er: »Mir wurde mitgeteilt, daß Sie mich zu sehen wünschten.« In Gedanken revidierte er bereits einige seiner rückhaltlosen Erklärungen, die abzugeben er beabsichtigt hatte. Selbstverständlich konnte nichts seinen Standpunkt hinsichtlich Joe Pearson ändern, aber wenigstens konnte er dabei freundlich sein. O'Donnell wünschte nicht, mit einem kränkelnden alten Mann aneinanderzugeraten. Für eine harte Auseinandersetzung waren die Voraussetzungen zu ungleich.
»Joe Pearson ist bei mir gewesen«, sagte Swayne, »vor drei Tagen war es, glaube ich.«
Hier hatte sich Pearson also in den Stunden aufgehalten, als er vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen. »Ja«, antwortete O'Donnell. »Ich hatte erwartet, daß er zu Ihnen kommen würde.«
»Er teilte mir mit, daß er das Krankenhaus verläßt.« Die Stimme des alten Mannes klang erschöpft. Sie enthielt keine Andeutung der Anschuldigungen, die O'Donnell gegen sich erwartet hatte. Neugierig, was als nächstes kommen würde, antwortete er: »Ja, das ist richtig.«
Der alte Mann schwieg. Dann sagte er: »Wahrscheinlich gibt es Dinge, über die niemand Macht hat.« Jetzt war eine Spur Erbitterung zu erkennen, oder war es Resignation? Es war schwer zu entscheiden.
»Das gibt es, glaube ich«, antwortete O'Donnell vorsichtig.
»Als Joe Pearson zu mir kam«, sagte Swayne, »richtete er zwei Bitten an mich. Die erste war, daß an meine Spende für den Baufonds des Krankenhauses keine Bedingung geknüpft werden solle. Ich habe dem zugestimmt. « Es folgte eine Pause. O'Donnell schwieg, während ihm die Bedeutung der Worte aufging. Der alte Mann fuhr fort: »Die zweite Bitte betraf etwas Persönliches. Sie haben einen Angestellten in dem Krankenhaus - er heißt Alexander, glaube ich.«
»Ja«, antwortete O'Donnell verwundert. »John Alexander, er ist Laborant.«
»Er hat ein Kind verloren.«
O'Donnell nickte.
»Joe Pearson bat mich, dem Jungen sein Medizinstudium zu bezahlen. Das kann ich natürlich - ganz mühelos. Geld hat wenigstens noch ein paar nützliche Zwecke.«
Swayne griff nach einem dicken Umschlag, der vor ihm auf der Decke gelegen hatte. »Ich habe meine Anwälte bereits angewiesen. Es wird ein Fonds zur Verfügung stehen. Er reicht für die Studienkosten und einen auskömmlichen Lebensunterhalt für ihn und seine Frau. Wenn er sich später entschließt, sich zu spezialisieren, steht auch dafür Geld zur Verfügung.« Der alte Mann schwieg, als ob das Sprechen ihn ermüde. Dann fuhr er fort: »Mir schwebt nun etwas Bleibenderes vor. Es wird später noch mehr junge Leute geben, die eine Förderung vielleicht ebenso verdienen. Ich möchte, daß der Fonds bestehenbleibt und von dem medizinischen Ausschuß des Three Counties Hospitals verwaltet wird. Daran knüpfe ich nur eine Bedingung.«
Eustace Swayne sah O'Donnell fest an. Herausfordernd sagte er: »Der Fonds wird den Namen >Joseph-Pearson-Studienstiftung< tragen. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?«
Gerührt und beschämt antwortete O'Donnelclass="underline" »Ganz im Gegenteil, Sir. Meiner Meinung nach wird das immer eine Ihrer größten Wohltaten bleiben.«
»Bitte, sag mir die Wahrheit, Mike«, sagte Vivian, »ich muß es wissen.«
Sie sahen sich an. Vivian in ihrem Krankenhausbett und Mike Seddons, der bedrückt und unsicher daneben stand.
Es war ihre erste Begegnung nach der Trennungszeit. Gestern abend, nachdem Vivians Verlegung rückgängig gemacht worden war, hatte sie ein zweites Mal versucht, Mike telefonisch zu erreichen, aber vergeblich. Heute morgen war er gekommen, ohne daß sie ihn gerufen hatte, wie sie es vor fünf Tagen vereinbart hatten. Jetzt versuchten ihre Augen, in seinem Gesicht zu lesen. Angst bedrückte sie, ihr Instinkt sagte ihr, was ihr Verstand zu erkennen sich weigerte.
»Vivian«, sagte Mike, und sie sah, wie er zitterte, »ich muß mit dir sprechen.«
Sie antwortete nicht, nur ihr fester Blick begegnete seinem. Seine Lippen waren trocken. Er feuchtete sie mit der Zunge an. Er wußte, daß sein Gesicht gerötet war, spürte, wie sein Herz klopfte. Gewaltsam unterdrückte er den Wunsch, sich umzudrehen und fortzulaufen. Verkrampft stand er vor ihr, tastete zögernd nach Worten, die er nicht finden konnte.
»Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst, Mike.« Vivians Stimme war tonlos, schien jede Empfindung verloren zu haben. »Du willst mich nicht mehr heiraten. Ich wäre eine Last für dich wie ich jetzt bin.«
»Oh, Vivian, Liebling.«
»Nicht, Mike«, unterbrach sie ihn, »bitte nicht.«
Drängend flehte er: »Hör mich bitte an, Vivian. Hör mich zu Ende, so einfach ist es nicht.« Wieder versagten sich ihm die Worte.
Drei Tage lang hatte er nach den richtigen Worten und den richtigen Sätzen für diesen Augenblick gesucht, und wußte doch, wie er es auch ausdrückte, die Wirkung konnte immer nur die gleiche sein. Seit ihrer letzten Begegnung hatte Mike Seddons die tiefsten Klüfte seiner Seele und seines Gewissens durchforscht. Was er fand, hatte in ihm Abscheu und Verachtung für sich selbst hervorgerufen, aber er hatte die Wahrheit entdeckt. Er wußte mit Gewißheit, daß eine Ehe zwischen ihm und Vivian niemals glücklich sein konnte nicht wegen ihrer Mängel, sondern wegen seiner eigenen.