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schuldig gemacht hatten, in verschiedene Gruppen aufgeteilt: Sie erhielten entweder keine Behandlung,

eine stationäre Psychotherapie, oder sie mussten den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker beiwohnen.

Unappetitliches Ergebnis des Vergleiches: Von den Alkoholikern ohne Therapie blieben 44 Prozent

rückfallfrei. Bei den Anonymen Alkoholikern betrug diese Erfolgsquote nur 31 Prozent und in der

Suchtklinik 32 Prozent.

Eine Hauptgefahr von Therapie liegt schon allein darin, dass praktisch alle psychotherapeutischen

Schulen mit einem weltanschaulichen System befrachtet sind, das explizite Vorstellungen

«Attributionen«) über die Ursachen von seelischem Leid transportiert, erläutern die beiden finnischen

Psychotherapie-Forscher Ben Furman und Tapani Ahola.39 Solche Kausalerklärungen können aber einen

erheblichen — auch schädlichen — Einfluss darauf haben, wie ein Patient mit der eigenen (und fremden)

Not umgeht. So ist die Einstellung zu einem Alkoholiker davon abhängig, ob man sein Problem für

vererbt,»anerzogen «oder selbst verschuldet hält. In dem Maße, in dem sie an die Stelle der sakralen

Autoritäten früherer Zeiten treten, erlangen die Psychotherapeuten aber eine gewisse Macht über die

Attributionen ihrer Klienten und der Öffentlichkeit.

Sehr verbreitet ist auch die Sichtweise, die das Leiden des Patienten auf eine Störung in seiner Psyche

«Psychopathie«), also im Extremfall auf eine Geisteskrankheit zurückführt. Mit dieser

Argumentationsfigur lässt sich elegant die Notwendigkeit der Behandlung durch einen Spezialisten

begründen. Es besteht aber die Gefahr, dass der Patient sich in Selbstvorwürfen oder Scham über seine

«Abartigkeit «ergeht und nicht mehr über die Probleme sprechen will. Wenn der Patient» blockiert«, ist

der Therapeut leicht versucht, jeden Misserfolg auf diese» nicht behobene «Störung zu schieben.

Es ist natürlich in der Psychotherapie auch gang und gäbe, nahe stehende Bezugspersonen

verantwortlich zu machen: Weil die Mutter (der Vater, der Partner etc.) zu fürsorglich, gefühlskalt etc. ist,

hat der Patient einen» Knacks«. Menschen stürzen sich naturgemäß gerne auf die Vorstellung, dass andere

an ihrem Kummer schuld sind, wenn die Alternative im Befühlen der eigenen Nase liegt. Daraus erwächst

aber leicht eine fatalistische Haltung, weil man sich die erwünschten Veränderungen nicht mehr selbst

zutraut, befinden Furman und Ahola. Außerdem können die Beziehungen zu den» Sündenböcken«

vergiftet werden. Was wiederum die Kommunikation zwischen dem Therapeuten und den

Bezugspersonen des Patienten sabotiert.

Mit der Vorstellung, dass seelische Störungen auf traumatischen Kindheitserlebnissen basieren, hat

Sigmund Freud den Psychotherapien ein potenziell schädliches Erbe vermacht.»Diese Deutung erlaubt

es dem Patienten, die deterministische Haltung des Opfers einzunehmen, das unfähig ist, sich in

irgendeiner Weise selbst zu helfen. «Unter Umständen wird er für Jahre mit Bitterkeit und Groll erfüllt,

während der Therapeut in die Rolle des» Archäologen «schlüpft, der nach lange vergrabenen Tragödien

sucht, auch wenn die Vergangenheitskrämerei keine Früchte trägt. Eltern können sich in wahnhafte

Schuldgefühle verrennen oder sich befleißigt sehen, ihre Sprösslinge vor allen erdenklichen Frustrationen

zu beschützen. Soziale Einrichtungen leiten daraus möglicherweise die Berechtigung ab, im Namen des

Kinderschutzes in das Privatleben von Familien einzudringen.

Auch die Auffassung, dass psychosoziale Belastungen der jüngsten Vergangenheit (z.B. Trennungen,

Arbeitslosigkeit) die Wurzeln des Übels sind, kann zu» iatrogenen«(durch den Arzt bedingten)

Schädigungen führen. Der Patient lässt sich von seinem Unglück ganz in Anspruch nehmen, er macht

vehement bestimmte Personen für die Unbilden verantwortlich, er wird passiv und nimmt zusehends die

Rolle des hilflosen Opfers an. Die Frage, warum andere Individuen ähnliche Situationen ohne seelischen

Knacks überstanden haben, wird pflichtschuldigst unter den Tisch gekehrt.

Solche» ideologischen «Nebenwirkungen manifestieren sich nicht nur in der Abgeschiedenheit des

therapeutischen Settings, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene, betonen die Autoren.

Psychotherapeutische Annahmen sickern nämlich über Massenmedien und Mundpropaganda

unaufhaltsam in die Öffentlichkeit durch.

In der Intimität des Behandlungszimmers wird dagegen laut Giese und Kleiber auch das

asymmetrische Machtverhältnis zwischen den beiden Parteien zum Problem. Die» Abstinenzregel«, die

(namentlich sexuelle) Beziehungen an der Couch untersagt, wird so zum Gummiparagraphen degradiert.

«Dabei reicht die Skala vom zweideutigen Therapeutenverhalten bis zum grausamen Spiel mit den

Gefühlen einer Klientin, bei dem Nähe und Bestätigung willkürlich als >Belohnung< für vom

Therapeuten erwünschtes Verhalten eingesetzt werden. «Nach amerikanischen Daten haben sich 10 bis 20

Prozent der männlichen Therapeuten auf Affären mit Patientinnen eingelassen; bei 7 Prozent kam es

dabei zum Geschlechtsverkehr. Derart ausgenutzte Klientinnen kämpfen später durchgehend mit Scham-

und Schuldgefühlen, oft kommt es aber auch zu Suizidversuchen, psychiatrischen Einweisungen und

gescheiterten Beziehungen.

Die irreführende Vorstellung, dass Psychotherapie völlig ungefährlich sei, hängt nach Ansicht des

Psychologen Al Siebert sicher auch damit zusammen, dass Psychotherapeuten praktisch niemals mit

Kunstfehlerprozessen rechnen müssen. Das Risiko ist so niedrig, dass sich viele Psychotherapeuten erst

gar nicht dagegen versichern, obwohl sie eine solche Versicherung — die bei Ärzten sündteuer ist –

nachgeschmissen bekommen. Das einzige Fehlverhalten, das heute ernsthaft verfolgt werden kann, ist der

sexuelle Missbrauch von Klienten.

«Psychotherapeuten sind frei von den Neurosen und Störungen, die sie

bei ihren Klienten austreiben wollen«

Wenn Psychotherapeuten den Anspruch erheben, dass sie ihren Patienten bei der Überwindung ihrer

seelischen Störungen behilflich sein können, müssten sie dieselben Störungen auch bei sich selbst

überwunden haben. Denn die Seelenhelfer operieren mehr oder weniger ausdrücklich mit der

Behauptung, über Techniken und Behandlungsmaßnahmen zu verfügen, mit denen man die Probleme an

ihren Wurzeln bekämpfen kann. Es ist daher keine Zumutung, von ihnen zu erwarten, dass sie mit gutem

Beispiel vorausgehen und sich selbst diesen Techniken unterziehen, bevor sie diese ihren Klienten

angedeihen lassen. Psychoanalytiker legen besonderen Wert auf die Feststellung, dass sie selbst eine

«Lehranalyse «absolvieren müssen, bevor sie die Segnungen dieser Redekur an das gemeine Volk

weitergeben dürfen. Außerdem strahlt ein Psychotherapeut, der selbst raucht, an Übergewicht und

Eheproblemen leidet, nicht eben Souveränität in praktischer Lebensbewältigung aus.

Nichtsdestoweniger ist es in der Psychoszene ein offenes Geheimnis, dass die hilflosen Helfer

tatsächlich in einem hohen Maß an vielen der» Verrücktheiten «leiden, die sie bei ihren Patienten kurieren

wollen. Selbst Sigmund Freud kam nicht um dieses bittere Eingeständnis herum, schreibt Professor

Christian Reimer vom Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen über den Vater der