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Psychologen und ihre Fürsprecher in den Medien haben dieses fatalistische Dogma in den vergangenen

Jahrzehnten auf allen Kanälen missioniert. Wir alle sind gestört, neurotisch, krank, depressiv, süchtig und

verrückt, weil die» Umstände«, die Erziehung, die Eltern, und unsere vernachlässigten Bedürfnisse uns

gezeichnet haben. Das ganze Leben ist eine Kette von krank machenden Traumatisierungen, die mit dem

Austritt aus dem Mutterleib, oder wahlweise noch viel früher, beginnt.

«Dieses Delegieren der Verantwortung hat eine weitere Konsequenz«, fürchtet der Psychologie-

Professor Ernst Pöppel.»Ich meine, dass sich unsere persönliche Identität nur dann ausprägen kann, wenn

wir den Schmerz und die Lust auch einmal zulassen, also an die Grenzen unseres Erlebens gehen und

diese Grenzen selber bestimmen. Wenn wir mit einer analgetischen Grundeinstellung jeden Schmerz

wegtherapieren, haben wir kaum Gelegenheit, zu prüfen, wie wir uns unter Belastung bewähren, wie wir

es schaffen, Schwierigkeiten zu überwinden, wer wir eigentlich sind.«43

«Psychotherapeuten sorgen dafür, dass spezifische Störungen mit den

angemessenen Techniken behandelt werden«

Annähernd 600 konkurrierende Verfahren drängeln sich heute auf dem bunten Markt der Seelenhilfe,

und diesem überbordenden Therapieangebot steht eine nicht einmal grob abschätzbare Zahl von

psychischen Störungen und Symptomen gegenüber. Nach dem klassischen hippokratischen Verständnis

müssten bei einer derartigen Vielfalt von Heilmethoden eigentlich Fragen der» Indikation «und

«Kontraindikation «im Mittelpunkt stehen: Für welche Störung bei welchem Patienten ist welche

Behandlung am besten — oder aber völlig deplatziert?

In der scheinfrommen Realität der Psychotherapie werden solche Fragen jedoch pikiert beiseite

geschoben.»Der durchschnittliche Psychotherapiesuchende kauft die Katze im Sack«, klagt der Berliner

Psychotherapie-Forscher Eckhard Giese.44 Offenbar macht kaum ein Psychotherapeut je die Frage zum

Thema,»ob der Klient für ihn bzw. für die Therapierichtung, die er repräsentiert, geeignet sein mag.

Tatsächlich kommt es in der Praxis sehr selten vor, dass ein Psychotherapeut einen Klienten abweist.«

Auch der amerikanische Psychologe Al Siebert kreidet der Psychotherapie diesen Dilettantismus an:»Die

gegenwärtigen Standards der Psychotherapie sind jedoch so, dass nur der theoretische Hintergrund und

die Überzeugungen des Therapeuten die Ausrichtung der Therapie bestimmen, und nicht die Symptome

des Patienten.«

Statt der angebrachten Selbstbescheidung entwickeln die Psychotherapeuten offenbar einen Universal-

und Allheilmythos, demzufolge ihr Therapieangebot das allein selig machende für alle Hilfe Suchenden

ist.»Richtig ist«, so Giese,»dass eine der besten therapeutischen Techniken die Überweisung ist.«

Geradezu pikant ist nach Ansicht des Psychotherapie-Forschers Klaus Grawe in diesem Zusammenhang

die Tatsache, dass in der BRD nahezu alle Lehrstühle für Psychosomatik mit Anhängern des freudschen

Credos besetzt sind. Doch nach dem Ergebnis der graweschen Metaanalyse kann es überhaupt keinen

Zweifel mehr geben, dass die Psychoanalyse bei psychosomatischen Störungen eindeutig keinen

therapeutischen Nutzen bringt.

«Wer mit einer Angststörung bei einem Analytiker landet«, schreibt das Nachrichtenmagazin» Der

Spiegel«,»weil ihn sein Hausarzt dorthin geschickt hat, wird auf Gedeih und Verderb per Analyse

behandelt — oft jahrelang vergebens.«38 Allerdings würde ihn auch die» fachgerechte«Überweisung nicht

unbedingt davor schützen, in die Mangel der freudianischen Redekur genommen zu werden. Nach einer

Umfrage in der Schweiz arbeiten auch 98 Prozent aller ärztlichen und 72 Prozent aller psychologischen

Seelenhelfer mit psychoanalytischen Verfahren, berichtet Grawe. Vermutlich müssen sich die

Seelenklempner zwangsläufig bei diesen Versatzstücken aus der Mottenkiste der Psychoanalyse bedienen,

weil ihre Klientel das» Bohren «nach Kindheitserinnerungen und andere Finessen der Wiener Schule als

selbstverständlichen Aspekt einer» richtigen «Therapie erachtet.

Wie dilettantisch und unprofessionell Psychotherapeuten bei der Planung ihrer Behandlung vorgehen,

kann man nach der Schilderung des amerikanischen Psychologen Terence W. Campbell in einer Serie von

empirischen Studien ablesen.[7] Die Entscheidungen über das therapeutische Vorgehen werden demnach

fast nie in einer logischen, systematischen Form vorgenommen. Nach dem Ergebnis der Untersuchung

wurden die genauen Ziele und das methodische Vorgehen allein auf Basis des intuitiven Eindruckes

ausgewählt.»In über 90 Prozent der Fälle ließen die Therapeuten jegliches relevante Forschungsergebnis

außer Acht, sie berücksichtigten nur das, was sich gut anhörte. «De facto stellte sich sogar heraus, dass

Psychotherapeuten generell die Augen vor dem Stand der Wissenschaft schließen, resümiert Campbell.

«Ein besonders ernüchterndes Forschungsergebnis besagte, dass weniger als 10 Prozent von 1100

befragten Psychotherapeuten überhaupt irgendwelche Forschungsarbeiten für ihre Arbeit heranzogen.«

Bei einer anderen Studie kam heraus, dass Psychotherapeuten es vorziehen, Behandlungsfragen mit ihren

Kollegen zu diskutieren, statt die professionelle Literatur zu konsultieren.»Alles in allem deuten diese

Ergebnisse darauf hin, dass Therapeuten Klatsch und Gerüchte über rigoroses Denken stellen — was ganz

gewiss als Krise betrachtet werden muss.«

In diesem unwissenschaftlichen und durch fehlende Selbstkritik gekennzeichneten Umfeld verhärten

sich theoretische Modellvorstellungen zu dogmatisch gehüteten Glaubenssätzen. So führen die meisten

therapeutischen Schulen die aktuellen seelischen Nöte ihrer Klienten auf irgendwelche schädigenden

Einflüsse in der mehr oder weniger weit entfernten Vergangenheit zurück. Der Glaube, dass die Wurzeln

allen Übels in den Lebensgeschichten der Klienten liegen, setzt aber häufig eine willkürliche Blindheit

für die gegenwärtigen Probleme dieser Menschen und für die sich häufenden Forschungsergebnisse

voraus, die beweisen, dass die Wurzeln in vielen Fällen in biochemischen, neurologischen und

genetischen Faktoren liegen. Außerdem haben Therapeuten oft kein Gespür dafür, dass sie die

«Tatsachen«, die ihre eigenen Vorannahmen untermauern, erst durch subtile Einflüsse aus ihren Patienten

mühsam» hervorkitzeln «müssen. Die Branche ist weitgehend blind für den» Erwartungsdruck«, den sie

ausübt, und der zur Folge hat, dass Klienten die Symptome» produzieren«, die in die Ideologie der Heiler

passen. Klassische Freudianer» entdecken «bei ihren Patienten Hinweise auf frühkindliche sexuelle

Versuchungen, während manche ihrer Konkurrenten im gleichen» Kaffeesatz «Hinweise auf eine

«multiple Persönlichkeit«(siehe entsprechendes Kapitel)»entdecken «würden.

Kein Wunder, dass die Zunft ob dieser unprofessionellen Haltung bei diagnostischen und

prognostischen Tests versagt, schließt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes. Wenn sie die

zukünftige Entwicklung einer Person vorhersagen sollen, erweisen sich Psychotherapeuten als denkbar