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wurden, lassen jetzt nur noch die Diagnose» Irrtum «zu. Je mehr Beobachtungen die Wissenschaftler

zusammentrugen, je genauer sie ihre Rechenmodelle ausfeilten, umso mehr schrumpfte der vermeintlich

überragende Einfluss der Erziehung dahin.»Wie immer sich Kinder entwickeln, die Eltern können nichts

dafür«, fasst das Schweizer Nachrichtenmagazin» Facts «die Quintessenz der neuen Analysen

zusammen.4 Auch der Psychologe und Verhaltensgenetiker David C. Rowe vom Institut für

Familienstudien der Universität von Arizona stellt die Macht der Erziehung radikal in Frage. Er

postuliert,»dass die Eltern, von Familien der Arbeiterschicht bis zu den Akademikern, wenig Einfluss

darauf haben, welche Eigenschaften ihre Kinder letztlich als Erwachsene entwickeln werden«.5

Die umstürzlerischen Forscher wissen, dass ihre Thesen in seltener Einstimmigkeit nicht nur gesundem

Menschenverstand widersprechen, sondern auch so ziemlich allem, was zum Thema Erziehung (noch) in

den populären Sachbüchern und in dicken akademischen Schwarten aus den Universitätsbibliotheken

steht. David C. Rowe verweist gelassen auf die Geschichte der Wissenschaft, wenn er die Armee

ungläubiger Sozialwissenschaftler und Laien kommentiert:»Früher hielt man die Erde für eine Scheibe;

es gibt Momente, wo Experten und Volksmeinung falsch liegen. «Und Rowe hat keine Zweifel, dass dies

ein solcher Moment ist.

Durch die Gnade der Unwissenheit haben die meisten Fachleute im deutschsprachigen Raum noch gar

nicht gemerkt, wie tief die gehätschelte These von der Allmacht der Erziehung im Schlamassel steckt.

Der Psychologe Urs Schallberger von der Universität Zürich weiß, dass viele seiner Kollegen aus der

Entwicklungspsychologie von den neuen Ergebnissen keine Ahnung haben:»Die sind immer wieder

überrascht, wenn ich darauf zu sprechen komme.«4 Eine Folge der» normalen zeitlichen Verzögerung«,

wie Schallberger meint, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse benötigen, um ein Fachgebiet zu

durchdringen und sich in Professorenköpfen niederzulassen.

«Frühe seelische Traumata schädigen Menschen ein Leben lang«

In ihrer ursprünglichen Form ist der Glaube an die überwältigende Macht der Erziehung auf Sigmund

Freud, den Begründer der Psychoanalyse, zurückzuführen. Nach seiner» Traumatheorie «werden in den

ersten sechs Lebensjahren die entscheidenden Weichen für unser Wohl und Wehe im späteren Leben

gestellt. Frühes seelisches Leid, die so genannten Traumata, können demnach vom heranreifenden

Organismus nicht verkraftet werden und fallen dem» Unbewussten «anheim, von wo aus sie

lebenslänglich verheerende Schäden an Leib und Seele des betreffenden Menschen anrichten. Wie der

Verhaltenswissenschaftler Hansjörg Hemminger schon vor mehreren Jahren schrieb, stellt diese

Überzeugung jedoch eine haltlose und wissenschaftlich völlig unbegründete Überbewertung der ersten

Lebensjahre dar, die im krassen Gegensatz zu den neueren Erkenntnissen der empirischen Forschung

steht.»Bei der Theorie von der zuverlässig erfreulichen Wirkung einer günstig verlaufenden Kindheit

handelt es sich um einen Mythos.«

Den Psychoanalytikern reicht es als Beweis schon, wenn sie in den Träumen und freien Assoziationen

ihrer Patienten versteckte Hinweise auf verdrängte seelische Erschütterungen der frühen Kindheit

eruieren können. Auch der Patient selbst mag in solchen Entlarvungen eine plausible und zwingende

Erklärung seiner Symptome sehen, zumal sie ihn aus seiner Ungewissheit befreien und ihm eine geistige

Zielscheibe für seine Suche nach Sinn und Verantwortung bieten. Doch aus der Perspektive der

empirischen Wissenschaft lässt sich der Zusammenhang zwischen frühen Traumata und ihren späten

Folgen nur in prospektiven Langzeitstudien eindeutig prüfen, bei denen eine größere Gruppe von

Probanden vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenendasein von den Forschern verfolgt und

psychologisch getestet werden.

Es gibt mehrere solcher Langzeitstudien, und ihre Ergebnisse versetzen samt und sonders der

Traumatheorie einen Todesstoß, rekapituliert Hemminger:»Mit erstaunlicher Häufigkeit gingen fähige,

ausgeglichene und einfühlsame Erwachsene aus traumatischen Familienverhältnissen hervor. Umgekehrt,

und dieser Befund ist für die Praxis noch bedeutsamer, wurden begabte, problemlose und glückliche

Kinder zu unzufriedenen, neurotischen Erwachsenen, die sich und ihrer Umgebung zur Last fielen.«

Jerome Kagan von der Harvard-Universität, der bedeutendste Entwicklungspsychologe unserer Zeit,

drückt diese Tendenz noch radikaler aus:»Die japanische Plünderung von Nanking 1939, die

Kulturrevolution in China, die Massenmorde in Bosnien und die Schlächtereien in Ruanda… Ich

vermute, dass die meisten Männer, die diese schrecklichen Gräuel begingen, in ihrer Kindheit liebevolle

Eltern hatten.«6

Einmal erworbene Verhaltensmerkmale können auf jeder neuen Entwicklungsstufe abgeschüttelt oder

wesentlich verändert werden, so dass der frühen Kindheit keine spezifische, prägende Sonderrolle zufällt.

Auch Dieter E. Zimmer pflichtet dieser radikalen Neubewertung bei:»Der Erwachsene ist nicht

verdammt, seine Kindheit fortzusetzen, er kann sie auch überwinden. Kinder sind widerstandsfähig.

Selbst eklatant große Belastungen führen nicht notwendig zu Neurosen, Psychosen oder ins Verbrechen,

und umgekehrt schützt die Abwesenheit von Belastungen nicht vor späteren Problemen.«7 Mit größter

Wahrscheinlichkeit lässt sich nicht eine einzige seelische Störung — in der eingängigen Manier von

Psychothrillern — auf ein singuläres, verdrängtes Erlebnis zurückführen.

Kinder, die aus ungünstigen Familienverhältnissen oder aus einem Heim wegadoptiert wurden,

wuchsen nach einer turbulenten Phase der Umstellung in die Probleme ihrer Alltagsfamilie hinein. Ihre

soziale Anpassungsfähigkeit wurde letztlich weder durch Schwangerschaftskomplikationen vor ihrer

Geburt noch durch Komplikationen bei der Bindung oder einen längeren Heimaufenthalt gehandikapt.

Selbst Kinder, die in Heimen über zwei oder mehrere Jahre hinweg keine persönlichen Bindungen

aufbauen konnten, glichen etwaige Verhaltensschwierigkeiten in erstaunlich kurzer Zeit noch aus.»Die

frühe Milieutheorie der Tiefenpsychologie«, konstatiert Hemminger,»die annimmt, dass das kindliche

Milieu den erwachsenen Charakter wesentlich determiniert, wird durch die Beobachtungen widerlegt.«

Eine theoretische Weiterentwicklung, hinter deren Fassade die widerlegte Traumatheorie fröhliche

Urständ feiert, ist die Lehre von der frühen Mutterentbehrung. Kurz zusammengefasst besagt sie, dass

Säuglinge sehr früh eine besondere Bindung an ihre Mutter entwickeln, die den Prototyp für alle späteren

Liebesbeziehungen abgibt. Wird dieses zarte Band durch einschneidende Erlebnisse wie den Tod der

Mutter oder einen Heimaufenthalt gekappt, wächst dieser Riss sich zu bleibenden emotionalen Schäden

aus, die von der Liebesunfähigkeit über Aggressivität und Gefühllosigkeit bis hin zur Depression und

Schizophrenie reichen.

«Inzwischen gibt es genügend Untersuchungen, um die Säulen von der frühkindlichen

Mutterentbehrung zum Einsturz zu bringen«, erhebt Jens Asendorpf, Professor für