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Persönlichkeitspsychologie am psychologischen Institut der Humboldt-Universität Einspruch.8 Wird unter

«frühkindlicher Mutterentbehrung «der Tod der leiblichen Mutter verstanden, lässt sich dieser Einsturz

besonders leicht aufzeigen. Die Frage, ob der frühe Tod eines Elternteils die Anfälligkeit für Depressionen

im Erwachsenenalter erhöht, wurde in mehreren Studien untersucht. Die Antwort lautet schlicht und

einfach: Nein.»Auch für andere Persönlichkeitsmerkmale konnte bisher kein einziger Effekt des Todes

eines Elternteils schlüssig nachgewiesen werden. «Die Waisen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem

Koreakrieg, die in ihren ersten Lebensjahren nur eine mangelhafte Bindung an Erwachsene gehabt hatten,

entwickelten sich nach der Adoption durch fürsorgende Pflegeeltern gut, wendet der

Entwicklungspsychologe Jerome Kagan gegen den übertriebenen Bindungsfetischismus ein.

Menschen, die einige Jahre ihrer Kindheit in einem Heim verbracht haben, stehen auch heute noch in

dem Ruf, emotional gestört, antisozial und bindungsunfähig zu sein. Doch auch dieses Stereotyp hält

einer sorgfältigen Prüfung nicht stand. In einer methodisch anspruchsvollen Studie wurde das weitere

Schicksal von 137 Probanden untersucht, die vor dem siebten Monat in ein Heim gekommen waren. Zwar

waren die ehemaligen Heimkinder etwas gehemmter als ihre Altersgenossen mit Normalbiographie, zieht

Asendorpf Bilanz. Doch bei den Merkmalen Aggressivität, Delinquenz, Intelligenzmangel und soziale

Unbeliebtheit stach ihre Persönlichkeit kein bisschen vom Durchschnitt ab. Das ist umso

bemerkenswerter, als der Heimaufenthalt in vielen Fällen von zusätzlichen Belastungserfahrungen wie

einer zerrütteten Herkunft begleitet wird.

Viele Kinderpsychologen geben heute Brief und Siegel darauf, dass es nicht auf die Existenz einer

frühen Mutterbindung, sondern auf deren» Sicherheit «ankommt. Bindungssicherheit — die Fähigkeit

eines Kleinkindes, auch nach einer kurzen Trennung von seiner Mutter eine ungetrübt positive Beziehung

aufrechtzuerhalten — soll die Basis für die Qualität aller späteren Beziehungen sein. Über Kindern, die bei

der Wiederkehr ihrer Mutter unbeeindruckt weinen und quengeln, lastet der Fluch einer

Beziehungsstörung.

Psychologen haben unzählige Versuche unternommen, diese These zu untermauern: Im Laborversuch

wird die Bindungssicherheit der Kinder gecheckt, dann nimmt man die Qualität ihrer Beziehungen zu

Freunden, Bekannten oder Erziehern ins Visier. Das Ergebnis dieser Versuche bringt die Theorie der

Bindungssicherheit zu Fall, wie die amerikanische Psychologin Judith Rich Harris attestiert:»Die immer

wieder aufgestellte Behauptung, dass die Qualität der Beziehungen zu Freunden von der Sicherheit der

vorherigen Mutterbindung abhängt, findet in den empirischen Daten keine Bestätigung.«9 Kleine Kinder

haben mehr oder weniger gute Beziehungen zu ihrem Vater, ihren einzelnen Geschwistern oder zu ihren

Erziehern, und nie hängt die Güte dieser Beziehungen von der Sicherheit der Ur-Connection zur Mutter

ab.

«Die moderne Forschung befreit uns vom mythischen Glauben, dass ein früher Segen oder Fluch, den

Fee oder Hexe über der Wiege flüstern, unser späteres Schicksal bestimmt«, folgert der Psychologe

Asendorpf aus den neuen Befunden. Auch der Verhaltenswissenschaftler Hemminger spricht diesen

Ergebnissen eine befreiende Wirkung zu. Durch die Psychoanalyse in Verbindung mit der antiautoritären

Pädagogik habe sich der Mythos breit gemacht, dass jedes schmerzliche Erlebnis in der Kindheit bereits

«Trauma «sei und damit langfristig krank mache. In der Psychotherapie und auch im öffentlichen

Bewusstsein kann diese Irrlehre schlimme Folgen haben: Patienten der unterschiedlichsten

therapeutischen Schulen machen völlig unbegründet ihre» traumatische «Vergangenheit für ihre

«verpfuschte «Gegenwart und ihre hoffnungslos erscheinende Zukunft verantwortlich und weisen so die

dringend gebotene Eigenverantwortung von sich. Eltern werden zu der völlig unrealistischen Illusion

verleitet, sie könnten und müssten ihren Kindern alle seelischen Belastungen ersparen, um sie nicht für

alle Zeiten zu» traumatisieren«.

«Der Erziehungsstil der Eltern determiniert die Persönlichkeit der Kinder«

Man braucht kein professioneller Kinderpsychologe zu sein, um sehen zu können, dass Eltern beim

Umgang mit ihren Sprösslingen völlig unterschiedlichen Verhaltensmustern folgen: Die einen treten ihren

Kinder mit Wärme und Respekt entgegen, während andere beim kleinsten Anlass barsch und

herrschsüchtig reagieren. Die einen überschütten den Nachwuchs mit Affenliebe, während die anderen

die kalte und distanzierte Tour abziehen. Eine überfürsorgliche Mutter nimmt ihr Kind auf Schritt und

Tritt vor eingebildeten Gefahren in Schutz.

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit nimmt auch der ungebildete Laie wahr, dass schon kleine

Kinder verschiedene Temperamente und Verhaltensstile zeigen: Die einen klammern sich bei jedem

Windzug verstört an der Mutter fest, die andern wenden sich unverzagt dem Fremden und Unbekannten

zu. Manche Kinder kommen den Anweisungen ihrer Eltern mit telepathischer Vorausschau nach, andere

blocken starrsinnig jeden erzieherischen Einfluss ab.

In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts brachten solche Beobachtungen eine junge

Disziplin — die Sozialisationsforschung — auf eine scheinbar geniale Idee: Die Unterschiede in den

kindlichen Charaktermerkmalen gehen auf die unterschiedlichen Erziehungsstile zurück. Die

Untersucher, so Judith Rich Harris, hatten die» Erziehungshypothese«(the nurture assumption) und damit

den größten psychologischen Mythos des Jahrhunderts proklamiert. Ein halbes Jahrhundert lang haben

ganze Heere von Psychologen und Pädagogen Eltern und Kinder in unterschiedlichen Settings

beobachtet; in Checklisten notierten sie die jeweils vorherrschenden Verhaltensweisen und Handlungen,

und sie verteilten Fragebögen an Eltern und Kinder: Wenn das Verhalten der Eltern tatsächlich den

kindlichen Charakter determiniert, dann müssten sich doch statistische Zusammenhänge finden lassen.

Die» Ergebnisse «der Erziehungsstilforschung üben seit Jahrzehnten einen hypnotischen Einfluss aus.

Bei Eltern, Pädagogen und im öffentlichen Bewusstsein gibt es heute keine Zweifel mehr, dass es einem

permissiv und lieblos erzogenen Kind an Selbstbewusstsein fehlt. Eine gefühlskalte und kontrollierende

Aufzucht bringt dagegen» nachweislich «aggressive und ungesellige Zöglinge hervor. Nur Eltern, die auf

einen durchgehend warmherzigen und führenden Erziehungskurs achten, dürfen hoffen, dass ihr Kind

seine Kindheit ohne Knacks übersteht. Diese Zusammenhänge wirken so einleuchtend, dass man sie

scheinbar bei sich selbst oder seinen eigenen Sprösslingen nachvollziehen kann — und das, obwohl der

Rückschluss von der Persönlichkeit auf die Erziehung eine» Schnapsidee «des zwanzigsten Jahrhunderts

ist. Psychologen und Erziehungswissenschafter bekommen das Dogma schon zu Beginn des Studiums

eingetrichtert, und die» Beweise «halten respektable Lehrbücher und Fachzeitschriften fest.»Die

Wahrheit ist jedoch, dass all die Studien, die dem Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und Charakter