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nachgingen, keineswegs so klare und eindeutige Ergebnisse brachten, wie es zunächst schien«, lässt

Dieter E. Zimmer den Luftballon platzen.10»Oft war der Zusammenhang nur schwach, widersprüchlich,

partiell oder fehlte ganz.«

Kein Name ist so mit der Erziehungsstilforschung verknüpft wie der von Eleanor Macoby. Die

Psychologin von der Stanford-Universität leitete die bedeutsamsten Forschungsprojekte, verfasste die

wichtigsten Handbuchartikel und gab die Fach- und Lehrbücher mit der größten Tragweite in der

Psychologie heraus. Umso bemerkenswerter, dass die Pionierin kürzlich nach Jahrzehnten der Forschung

einen zutiefst pessimistischen Ton anschlug:»Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in vielerlei Hinsicht

zutiefst enttäuschend. In einer Studie mit nahezu 400 Familien konnten nur wenige Verknüpfungen

zwischen den (in ausführlichen Interviews erhobenen) Erziehungspraktiken der Eltern einerseits und

unabhängigen Einschätzungen der Persönlichkeit ihrer Kinder andererseits gefunden wurden — in der Tat

so wenige, dass praktisch nichts veröffentlicht wurde, was diese beiden Datensets verbindet.«8

Die Erziehungsstilforschung, moniert auch Judith Rich Harris, ist an ihren eigenen Daten gescheitert.

Mit kritischem Auge lassen sich keine oder nur höchst zweifelhafte Beweise für den elterlichen Einfluss

auf die Persönlichkeit finden. Nicht einmal der scheinbar» wasserdichte «Zusammenhang zwischen der

mütterlichen Überfürsorglichkeit und der kindlichen Unselbstständigkeit hält einer Überprüfung stand.

Und selbst wenn der behauptete Zusammenhang zwischen Elternverhalten und kindlicher Psyche

existieren würde, wäre damit noch überhaupt nichts über die Richtung der Ursache-Wirkung-Kette

ausgesagt. Vielleicht ruft ja auch umgekehrt eine bestimmte kindliche Persönlichkeit ein bestimmtes

Erziehungsverhalten bei den Müttern und Vätern hervor. Vielleicht ist es die freundliche und emotional

stabile Gemütsverfassung des Kindes, die seine Eltern zu einem harmonischen und wohlwollenden

Erziehungsstil animiert.»Selbst sehr kleine Kinder tragen schon aktiv zum Eltern-Kind-Verhältnis bei«,

bringt Judith Rich Harris eine der fundamentalsten neuen Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie auf

den Punkt. Schon sehr junge Babys schauen ihren Eltern in die Augen und bringen deren Herzen mit

ihrem einzigartigen Lächeln zum Schmelzen. Wenn die Kinder die Veranlagung zu einer autistischen

Geistesstörung haben, bleibt dieser betörende Gefühlsausdruck aus.»Es ist schwer, Enthusiasmus für ein

Kind zu zeigen, das einem selbst keinen Enthusiasmus zeigt.«

Auch der Jenaer Entwicklungspsychologe Rainer Silbereisen beschreibt Entwicklung als eine Art

Pingpongspiel zwischen Anlage und Erziehung:»Ein Kind lockt mit seinem Temperament bestimmte

Verhaltensweisen bei den Eltern hervor, etwa Arger, Zuwendung, Überbehütung. Insofern schafft es sich

selbst seine Umwelt. «Kinder bewirken bei den Eltern eine auf ihr individuelles Temperament und ihre

persönlichen Begabungen abgestimmte Erziehung.»Angenommen«, erklärt Silbereisen, Kind A der

Familie Lehmann ist im Musischen ein bisschen neugieriger und eine Idee interessierter als Kind B, dann

werden sich ehrgeizige Eltern — siehe die berühmten Eislaufmütter — schon sehr früh diesem Kind

zuwenden und es fördern, während sein Geschwister eine andere Entwicklung nimmt.«11

Ein zweiter Mangel der Erziehungstheorie ist möglicherweise noch viel verheerender als die

Erkenntnis der aktiven Kindesrolle. Die Theorie setzt nämlich voraus, dass die entscheidenden Merkmale

durch zwischenmenschlichen Einfluss von den Eltern auf das Kind übertragen werden. Die

Sozialisationsforschung hatte sich strikt verboten, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass

ein Teil der Persönlichkeit auch mit den Erbanlagen von einer Generation an die folgende weitergegeben

wird. Schon allein der Gedanke, dass der Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt, sondern mit

vorgefertigten Dispositionen das Licht der Welt erblickt, galt in diesen Kreisen als antihumanistische

Ketzerei.»Also wurde die Möglichkeit gar nicht erst mitgeprüft«, übt Dieter E. Zimmer Kritik. Wenn

psychisch stabile Kinder psychisch stabile Eltern haben, liegt das vielleicht nur daran, dass beide Parteien

eine genetische Anlage für psychische Stabilität gemeinsam haben.»Darum rächt es sich, dass sich diese

Wissenschaft auf einem Auge blind gemacht hatte: Ihre Untersuchungen sind nicht direkt falsch, aber

nichts sagend.«

An die Nebenrolle, die sie bei der Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder spielen, werden die Eltern

sich wohl erst noch gewöhnen müssen. Da kommt eine Ernüchterung auf sie zu, die auch schon jene

fortschrittlichen Linksliberalen zu spüren bekamen, die ihre Kinder durch den Verzicht auf das

vermeintliche Erzübel Autorität zu besseren Menschen machen wollten, gibt Dieter E. Zimmer zu

bedenken.»Nicht wenige mussten erleben, dass ihr neuer Stil nicht immer aufging — dass ihre Kinder

zu den Spießern oder Karrieristen wurden, die sie selber um keinen Preis hatten sein wollen. Zu

Drogensüchtigen, zu Skinheads und jedenfalls zu etwas unvorhergesehen Eigenem.«

Dass die Rolle der Eltern umgeschrieben wird, halten Experten für überfällig, auch wenn der neue Part

noch nicht im Detail bekannt ist.»Die gängige Ideologie schiebt die ganze Verantwortung für ein

missratenes Kind den Eltern zu«, sagt der Zürcher Psychologe Schallberger.»Man kann die neuen

Befunde auch als Entlastung sehen, denn sie nehmen den Eltern eine übertriebene Verantwortung.«

Väter und Mütter brauchen also keine Schuldgefühle zu haben, wenn ihre» Leistung «hinter dem

Vorbild der TV-Elternideale zurückbleibt. Homo sapiens wäre längst von der Bildfläche der Evolution

verschwunden, wenn es für sein Wohlergehen der» Supereitern «bedurft hätte. Überhaupt sprechen die

evolutionären Mechanismen gegen das klassische Sozialisationskonzept. Warum auch sollten Kinder

ihren Eltern noch das Verhaltensrepertoire abschauen, wenn sie schon deren Gene in sich haben? Vom

Standpunkt der Evolution aus betrachtet ergibt das wenig Sinn: Junge Menschen müssen sich in einer

anderen Welt behaupten als ihre Eltern. Wären sie nichts als Eins-zu-eins-Kopien ihrer Erzeuger, fehlte

ihnen die Flexibilität, sich auf veränderte Lebensbedingungen und soziale Normen einzustellen. In der

eigenen Familie gibt es weder Arbeit noch einen Lebenspartner.»Eltern sind Vergangenheit, Gleichaltrige

sind Zukunft«, schreibt Judith Rich Harris klipp und klar. Bleibt die Frage offen, ob Eltern jemals an ihre

eigene Einflusslosigkeit glauben werden.

«Der Erziehungseinfluss ist wichtiger als die Macht der Erbanlagen«

Im kritischen Bildungsbürgertum und in weiten Teilen der aufgeklärten Öffentlichkeit gilt es als

verwerflich, einen bedeutenden Einfluss der Gene auf die Persönlichkeit zu erwägen. Der Verweis auf

Erbunterschiede hat auf den ersten Blick etwas Inhumanistisches, weil er die Möglichkeit impliziert, dass

soziale Ungleichheit eine biologische Basis haben könnte. Es ist einfach tröstlicher, an eine beliebige

Formbarkeit der menschlichen Seele zu glauben, weil diese Illusion besser mit der Machbarkeit eines

sozialistischen Gleichheitsparadieses vereinbar ist.