Выбрать главу

Auch für viele Wissenschaftler stellt sich das alte Problem von Anlage und Umwelt noch immer als ein

erbitterter Clinch um Prozentanteile dar. Doch abseits der lärmenden Revierkämpfe hat die relativ junge

Disziplin der Verhaltensgenetik im Stillen die traditionellen Vorstellungen über das Wirken von» nature«

und» nurture «auf den Kopf gestellt. Ausgerechnet die Suche nach dem Einfluss der Gene brachte

bahnbrechende Erkenntnisse über Wesen und Tragweite der Umweltbedingungen ans Tageslicht.

Die neuen verhaltensgenetischen Studien, die mit den besten in der Wissenschaft verfügbaren

Methoden und Auswertungsverfahren gerüstet sind, haben bei den führenden Experten alle Zweifel am

Einfluss der Erbanlagen ausgeräumt.»Der kalte Krieg in der Anlage-Umwelt-Debatte ist vorbei«,

konstatiert der Washingtoner Psychiatrie-Professor David Reiss.12» Es gibt eindeutig erbliche

Komponenten im Verhalten«, pflichtet die Psychologin Shelley D. Smith aus Omaha bei. Genetische

Einflüsse» existieren und sind real«, konzediert selbst der engagierte britische Genetik-Kritiker Steven

Rose.

Bei der Suche nach der Erblichkeit seelischer Merkmale hat die Verhaltensgenetik mit einigen

fundamentalen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Gegensatz zu Mendels Erbsen, von denen lediglich zwei

Varianten existieren (eine glatte und eine gekräuselte), bestehen psychische Eigenschaften aus einem

Kontinuum mit schwammigen Konturen. Das Fach Psychologie verfügt über unzählige diagnostische

Verfahren, Menschen in solche und solche einzuteilen, und es herrscht keine Einigkeit über die

«wichtigen «Dimensionen der Persönlichkeit. Dazu kommt, dass die betreffenden Merkmale (häufig)

nicht durch ein singuläres Gen determiniert werden, sondern durch ein Potpourri von Erbfaktoren.

Die herkömmliche Sozialisationsforschung kann den Einfluss des Erbes und den der Umwelt niemals

voneinander abgrenzen, weil beide Sphären bei Eltern und Kindern hoffnungslos miteinander

verschachtelt sind. Um diese verschlungenen Kräfte» auseinander zu dröseln«, greift das Fach heute vor

allem auf Zwillings-, Adoptiv- und Familien-Studien zurück. Man untersucht Gruppen, deren

Erbfaktoren und Umweltbedingungen zu einem genau definierten Grad zusammenfallen.

Adoptivgeschwister haben zum Beispiel 100 Prozent Umweltbedingungen, aber keine Gene gemeinsam,

während getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge 100 Prozent Erbfaktoren, jedoch keinerlei

Umweltbedingungen teilen.»Normale «Geschwister dagegen liegen mit 50 Prozent gemeinsamen Genen

und 100 Prozent gleicher Umwelt im Mittelfeld. Wenn man nun in Erfahrung bringt, wie stark sich die

Personen in dem untersuchten Merkmal ähneln, kann man mit mathematischen Mitteln die Macht der

Gene und die des Milieus voneinander trennen.

Kritiker mögen sich an Details einzelner Studien festbeißen,»aber die Pfeile weisen alle in die gleiche

Richtung«, betont der Psychologe Thomas J. Bouchard vom Minnesota Center for Twin and Adoptions

Research. Nach seinen Messungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen werden die sozialen

und gefühlsmäßigen Eigenschaften unserer Persönlichkeit zu durchschnittlich 46 Prozent durch

Erbfaktoren determiniert. Der Psychologe J. C. Loehlin von der University of Texas in Austin hat alle

Studien an Zwillingen in einer statistischen Gesamtschau erfasst. Fazit der Metaanalyse: Die

Charakterunterschiede gehen zu durchschnittlich 42 Prozent auf die Erbsubstanz zurück.

Diese Größenordnung, also eine Erbeinfluss zwischen 40 und 50 Prozent, zieht sich wie ein roter

Faden durch alle von Forschern getesteten Wesensmerkmale und gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit,

betont Robert Plomin, ein bekannter Psychologe und Lehrbuchautor von der Pennsylvania State

University. Auch Dieter E. Zimmer teilt diese Sicht:»Die Erblichkeitsberechnungen der

Verhaltensgenetik sind jedoch keine Mode, die sich wieder verziehen wird. Sie haben jetzt dreißig Jahre

Test auf Test bestanden, sind dabei immer raffinierter und nie widerlegt worden, obwohl der Mainstream

der Wissenschaft auf nichts so erpicht war wie auf ihre Widerlegung.«—»Bezogen auf einige Aspekte

Ihrer Persönlichkeit«, folgert der amerikanische Genetiker Dean Hamer kühn,»haben Sie so viel Wahl

wie bei Ihrer Schuhgröße, nämlich keine.«

Je zuverlässiger es den Forschern gelingt,»Persönlichkeit «per Fragebogen zu erfassen, desto größer

wird das errechnete Gewicht der Gene. Zum Beispiel verbesserte ein Forscherteam der Universitäten

Bielefeld und Warschau mit dem Psychologen Rainer Riemann die Messmethode, indem sie nicht allein

die Betreffenden selbst über ihre Wesensmerkmale ausfragten, sondern auch jeweils zwei ihrer Freunde.10

Auf diese Weise wurden die sozusagen dreifach gesicherten Persönlichkeiten 660 eineiiger und 304

zweieiiger Zwillingspaare verglichen. Resultat: Der ermittelte genetische Anteil reichte bis zu 70 Prozent!

Besonders» Offenheit für neue Erfahrungen«, also die Tendenz, originell, kreativ, phantasievoll und

künstlerisch zu sein, wird nach dieser und vielen anderen Erhebungen stark von den Genen bestimmt.

Aber auch Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit (Extraversion), Verträglichkeit, emotionale Stabilität und

Anfälligkeit gegenüber Stress wird erheblich von den Anlagen gespeist, ebenso die politische

Grundhaltung (etwa» Traditionalismus«) oder die Religiosität eines Menschen und sogar dessen

Abhängigkeitsrisiko gegenüber verschiedenen Drogen. Riemanns Fazit: An der Bedeutung der Gene für

die Persönlichkeitsentwicklung» gibt es keinen ernsthaften Zweifel mehr«.

Es wäre allerdings verheerend, wenn sich der intellektuelle Beitrag der Verhaltensgenetik auf die

Verkündung eines Prozentwertes beschränkte. Die Ziehung einer Demarkationslinie im Sand wäre

unergiebig und langweilig, denn dann hieße die» Erklärung «ja immer nur, Anlage und Umwelt tragen

soundso viel bei, und damit basta. Die wirklich aufregende Suche nach den verborgenen Prozessen hinter

den Phänomenen würde durch die Zahlenakrobatik im Keim erstickt.

Zum Glück hat das Fach vor ein paar Jahren eine Entdeckung gemacht, die die menschliche

Selbsterkenntnis um einen Quantensprung bereichert. Sie betrifft aber gerade nicht die Gene, sondern den

Umwelteinfluss, und sie lässt ahnen, dass wir uns auf der Suche nach den prägenden Kräften des

Schicksals erst in der Startposition befinden. Unter dem Begriff» Umwelt «verstehen die Soziologen und

Milieutheoretiker formende Kräfte wie etwa Bildung, Sozialschicht, Wohnverhältnisse oder elterlicher

Erziehungsstil. Alle Personen, die dem gleichen Milieu unterworfen sind, müssten dadurch in die gleiche

Richtung beeinflusst werden. Die Persönlichkeit von Geschwistern, die im Schoße einer Familie groß

werden, müsste also durch die» geteilte Umwelt «auf eine Linie» getrimmt «werden.

Diese Möglichkeit lässt sich» wasserdicht «an Adoptivgeschwistern prüfen, welche keine Gene

gemeinsam haben. Sie werden jedoch beide im gleichen Milieu» sozialisiert «und sollten sich daher

eigentlich immer ähnlicher werden. Sie werden es aber nicht, zieht der bereits erwähnte Berliner

Psychologie-Professor Jens Asendorpf Bilanz.7 De facto bleibt ihre Persönlichkeit auch nach Jahren

gemeinsamer Aufzucht so unterschiedlich wie die von zwei willkürlich aus der Bevölkerung

herausgegriffenen Individuen. Alles, was die Adoptiveltern auch an Erziehungs- und Prägungsversuchen