aufbieten, prallt offenbar wirkungslos an der unerklärlichen sozialen und emotionalen Einzigartigkeit der
Zöglinge ab.
Dies Ergebnis sei niederschmetternd für die» alte «Milieutheorie, meint der Forscher. Das gilt übrigens
noch mehr für den spiegelbildlichen Trend bei eineiigen Zwillingen, die gleich nach ihrer Geburt getrennt
wurden und in unterschiedlichen Milieus aufwuchsen. Das wirklich Überraschende an den Gen-
Doppelgängern ist nämlich in Wirklichkeit gar nicht ihre (manchmal spektakuläre) Ähnlichkeit.
Das aufregendste Ergebnis der Zwillingsforschung besteht tatsächlich darin, dass sich die genetischen
«Klone «in einem definierten Maße unähnlich sind. Und dieses definierte Maß ist bei den Zwillingen, die
in getrennten Milieus aufwachsen, um kein Jota größer als bei den gemeinsam aufgezogenen Ebenbildern.
Da sie unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, müssten ihre Persönlichkeiten mit der Zeit
auseinander driften. In Wirklichkeit haben sie aber am Ende genauso viel Übereinstimmungen (eben 40
bis 50 Prozent) wie die doppelten Lottchen, die in einer Familie aufwuchsen. Fazit: Alle Einflüsse, die
Menschen (und eben auch erbgleiche Menschen) unähnlich machen, kommen bereits in ein und derselben
Familie vor. Der Einfluss der» geteilten Umwelt«, also der globalen Milieufaktoren, die» ohne Ansehen
der Person «auf alle Angehörigen gleichermaßen hereinprasseln, ist in allen Studien vernachlässigbar
schwach und übersteigt in keinem Fall eine Größe von wenigen Prozentpunkten, erläutert Bouchard.
Diese Einsicht, die erst vor ein paar Jahren erwuchs und bisher alle empirischen Prüfungen bestanden
hat,»ist wohl das bedeutendste Ergebnis der Verhaltensgenetik für die Persönlichkeitsforschung –
bedeutender als der Nachweis, dass Persönlichkeitsunterschiede genetisch mitbedingt sind«, meint
Asendorpf. Es gibt offenbar sehr wohl Erfahrungen (»nurture«), die den Charakter prägen — mindestens in
dem Maße wie die Gene —, aber das sind anscheinend die persönlichen, kleinen und idiosynkratischen
Erfahrungen, die jede Person für sich selbst durchmacht, weil sie» demokratisch«über alle Klassen und
Schichten streuen. Im Grunde müssten schon heute alle Lehrbücher der Soziologie neu geschrieben
werden. Das traute Heim ist offenbar kein monochromes Tauchbad, aus dem Kinder identisch eingefärbt
hervorgehen. Sondern eher eine Ansammlung vieler Mikroweiten.
Zwar steckt die» Fahndung «nach den» nicht geteilten Faktoren «noch in ihren Kinderschuhen, aber es
lassen sich laut Asendorpf schon jetzt ein paar Vermutungen über ihre Identität anstellen:»Einzelne
Personen aus dem persönlichen Bekanntenkreis oder aus der Welt der Medien, die zu Vorbildern erkoren
und zu imitieren versucht werden… bestimmte umweltbedingte Krankheiten und Behinderungen,
einschließlich aller vorgeburtlichen, nichtgenetischen Entwicklungsstörungen; emotional aufrührende
individuelle Erlebnisse. «Der spezielle Kumpel aus den Wachstumsjahren, der eine idealisierte Lehrer aus
der frühen Pubertät oder gar die leidenschaftlich verschlungene Fernsehserie aus der Kindheit drücken
dem» Ego «womöglich nachhaltiger ihren Stempel auf als alle Grobfaktoren der Familie und der
Herkunftsschicht. Und alle diese» Einflüsse «werden ihrerseits erst durch einen Filter wirksam, der auf
verschlungene Weise mit der einzigartigen genetischen Ausstattung und der unwiederholbaren
Vorgeschichte des jeweiligen» Empfängers «durchsetzt ist.
Auf diesem Stand des Wissens muss die Psychologie im Grunde eingestehen, dass wir von den
prägenden Faktoren des menschlichen Wesens sehr viel weniger Ahnung haben, als es bisher schien.
«Auch wenn Wissenschaftler nicht gerade leidenschaftlich auf eine Theorie abfahren werden, die dem
Zufall eine bedeutende Rolle zuweist, ist es doch sehr gut möglich, dass viele kritische Lebensumstände,
die Persönlichkeit und Intelligenz beeinflussen, auf Zufälligkeiten beruhen, die höchstens für eine kleine
Minderheit von Menschen überhaupt irgendeine Bedeutung besitzen«, betonen Brody und Crowley.
Der neue Appeal des Zufalls macht auch den Wissenschaftsjournalisten Zimmer nachdenklich.»Sollte
sich der reine lebensgeschichtliche Zufall als das Entscheidende erweisen, so wäre die auf
Gesetzmäßigkeiten erpichte Wissenschaft in einer hoffnungslosen Lage. Ein Mädchen sieht mit zehn
einen Naturfilm, der sie fasziniert, und verbringt den Rest des Lebens am liebsten in der einsamen Natur,
die Schwester verpasst das Programm, weil sie an der Straßenecke auf ihre Clique gestoßen ist, und wird
zum Disco-Typ…«
Als wenn es mit der Widerlegung der klassischen Milieutheorie nicht genug wäre, hat der Psychologe
Robert Plomin in einer groß angelegten Zwillingsstudie den Schwindel erregenden Nachweis geführt,
dass viele vermeintliche Umweltbedingungen durch genetische Einflüsse unterminiert sind.11 Fazit:
«Milieu «ist kein eigenständiger Stimulus, der auf passive Empfänger» niederprasselt«; die Person ist
aktiv in Wahrnehmung und Erzeugung» ihres «Milieus eingespannt. So nahmen getrennt aufgewachsene
eineiige Zwillinge ihre familiäre Umgebung als»ähnlich «wahr, selbst wenn Welten dazwischen klaffen.
Bei Videoaufzeichnungen stellte sich zudem heraus, dass sie von ihren Müttern ähnlicher behandelt
wurden als zweieiige Schicksalsgenossen. Der Erziehungsstil wurde zu rund 30 Prozent durch die
Erbmasse der Adoptivkinder diktiert.
Selbst so genannte belastende Lebensereignisse, die meist dem Schicksal zugeschrieben werden,
erwiesen sich zu durchschnittlich 30 Prozent als durch Gene» eingebrockt«. Unfälle im Kindesalter
schlugen gar mit fast 50 Prozent Erbanteil zu Buche. Ähnlich hoch waren die Prozentwerte für die
meisten anderen untersuchten Umweltbedingungen: Bewertung von Jugendlichen durch Kameraden und
Lehrer, Ausmaß des TV-Konsums, Einschätzung des Betriebsklimas und schließlich Stabilität der Ehe.
Als Plomin seine brisanten Daten in einem programmatischen Beitrag (»The nature of nurture«) zur
Diskussion stellte, bezogen 30 dazu aufgeforderte Experten Stellung. Lediglich 5 erhoben
grundsätzlichen Einspruch, 19 ergriffen explizit für die revolutionäre Grundannahme Partei.
Dass Erbe und Umwelt in vielen neuen Studien jeweils einen Beitrag von fifty-fifty leisten, kann nach
Ansicht von Zimmer für Milieutheoretiker kein Anlass zur Selbstgefälligkeit sein nach dem Motto: Dann
haben eben beide Seiten Recht gehabt im dreißigjährigen Erbe-Umwelt-Krieg. Hier käme die Freude zu
früh. Zum einen nämlich gehören zu den nichtgenetischen Quellen der Unterschiede, die auf der
Umweltseite zu Buch schlagen, auch Unfälle, (nichtgenetische) Krankheiten und alle die Einflüsse, denen
der Fetus im Mutterleib ausgesetzt ist — Ursachen also, von denen man einige» biologisch «nennen würde
und deren Folgen teilweise im Wortsinn» angeboren «sind.
Zum andern machen die Unterschiede im Genom den mit Abstand größten Einzeleinfluss aus. Die
nichtgenetische Varianz erklärt sich dagegen aus vielen ganz unterschiedlichen Faktoren. Folglich hat
kein einzelner von ihnen ein so hohes Gewicht, dass er allein dem genetisch bedingten Varianzblock
Paroli bieten könnte. Alle Patentrezepte, die mit» Man müsste nur…«beginnen (»nur «die Armut