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beseitigen,»nur «alle auf gute Schulen schicken,»nur «lieb zu den Kindern sein), die sich also auf eine

einzige und noch dazu hypothetische Umweltursache fixieren, sind von vornherein zum Scheitern

verurteilt. Wenn sie überhaupt effektiv sind, dann jedes nur in geringem Maß. Nicht nur, dass es viele

entscheidende Umweltfaktoren gibt: Man weiß bis heute schlechterdings nicht, welche eigentlich wichtig

sind, man weiß nur, dass es jene nicht sein können, die die Sozialisationsforschung immer im Auge hatte.

Laut Zimmer müssen wir sogar damit rechnen, dass der durch Erbanlage bestimmte Anteil unserer

Persönlichkeit in der modernen Welt immer größer wird. Je offener und durchlässiger eine Gesellschaft,

desto höher werden die Erblichkeiten mancher Merkmale. Denn wo die Umwelt keine Unterschiede mehr

erzwingt, ist die verbleibende Variation notwendig genetischer Herkunft. Man kann es auch so sagen:

Jeder sucht sich die Umwelt, die seinen genetischen Anlagen am besten entspricht; je größer die Freiheit,

die ihm die Gesellschaft dazu lässt (je größer also die Chancengleichheit), desto reiner sind etwa

verbleibende Unterschiede das Werk der Gene.

Tatsache ist, dass der Einfluss der genetischen Anlage auch im Verlauf eines individuellen Lebens

immer größer wird. Aus naiver Sicht hätte man damit rechnen können, dass der Mensch beim Austritt aus

dem Mutterleib noch voll unter dem Diktat seiner genetischen Anlage steht, während der Umwelteinfluss

mit den Jahren immer mehr Gewicht erhält. Doch ein Team um den Verhaltensgenetiker Robert Plomin

hat mit einer viel beachteten Studie an 240 Zwillingspaaren im Alter von über 80 Jahren den Beweis

erbracht, dass die Gene im Alter immer stärker zum Tragen kommen.13 Ergebnis der Analyse der

Greisenintelligenz: Obwohl die Senioren viele Jahrzehnte an Lebenserfahrung gesammelt hatten, war der

Einfluss der Gene auf ihr Denkvermögen verblüffend groß. Ihre allgemeine geistige Fähigkeit wurde zu

62 Prozent durch Erbfaktoren festgelegt. Das war an der größeren Ähnlichkeit der eineiigen im Vergleich

zu der der zweieiigen Zwillinge abzulesen.

Münchner Psychologen vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie kamen zu ähnlichen Erkenntnissen.14

Durch einen Glücksfall hatten die Wissenschaftler um Institutsleiter Franz E. Weinert die Gelegenheit,

eine Zwillingsstudie fortzuführen, die bereits im Jahr 1937 gestartet worden war. Damals waren 180

Zwillinge im Alter von rund elf Jahren getestet worden, unter anderem auf ihren IQ. Die Münchner

Forscher konnten jetzt 87 Personen dieser Stichprobe, die in den fünfziger Jahren erneut getestet worden

waren, für eine Folgeuntersuchung gewinnen. Darunter waren 23 eineiige und elf zweieiige Paare sowie

19 Einzelpersonen, deren Partner verstorben oder unerreichbar waren.

Ergebnis: Während der Erbfaktor bei der letzten Erhebung in den fünfziger Jahren» nur«58 Prozent

betragen hatte, machte er beim aktuellen Test 82 Prozent aus. Zudem drängte das Alter den Einfluss der

traditionellen Milieufaktoren in den Hintergrund. Es machte kaum noch einen Unterschied, ob die

Senioren in einem gebildeten Elternhaus oder in einem bildungsfernen Milieu aufgewachsen waren.

Neben den Genen zählte fast nur noch der individuelle Erfahrungshintergrund.

Es hat den Anschein, so resümieren die Autoren, dass der Einfluss der Gene im Alter zunimmt. Das

kommt vermutlich daher, dass Menschen sich im Leben zunehmend auf die Dinge besinnen, die ihrer

Anlage entsprechen, glaubt Plomin. Demnach erlangen die Gene, die schon immer aktiv waren, durch

einen kumulierenden Effekt immer mehr Einfluss.»Es ist keineswegs so, dass im höheren Lebensalter

plötzlich neue Gene anspringen.«

«Es gibt Erfahrungen, die so traumatisch sind, dass alle Kinder daran zerbrechen müssen«

Manche Erfahrungen, so ein häufig vorgebrachtes Argument gegen die sich allmählich

herumsprechende Folgenlosigkeit der ersten Lebensjahre, sind derart schrecklich, dass sie einfach

unauslöschbare Wunden in der Seele der Kinder hinterlassen müssen. Wenn ein Kind in einer Hölle aus

Vernachlässigung, Armut und Gewalt aufwächst, kann es unmöglich zu einem glücklichen und

lebenstüchtigen Menschen reifen. Doch dieses Klischee wird jetzt in neuen Studien immer häufiger durch

die Identifikation von Personen umgestürzt, die sich trotz schwerster Belastungen und Traumata in ihren

«prägenden «Jahren zu erfolgreichen und produktiven Erwachsenen» mausern«. Manche Forscher preisen

solche Kinder gar als» Unverwundbare«, andere Experten bezeichnen das Phänomen zurückhaltender mit

«Resilienz«, nach dem englischen Wort für Unverwüstlichkeit.

Mit der Entdeckung der Resilienz zeichnet sich auch eine radikale Trendwende in der

Entwicklungspsychologie ab: Lange Zeit standen jene Faktoren, die Menschen zu Verlierern machen, im

Mittelpunkt des Interesses. Die Risikogruppe hatte meist besonders viele traumatische Erfahrungen hinter

sich und stach häufig durch niedrige Intelligenz, hohe Impulsivität und ein schwach ausgebildetes

Planungsverhalten hervor. Jetzt verlagert sich der Schwerpunkt zu Gunsten der Kräfte, die aus

vermeintlichen Verlierern erfolgreiche Menschen machen: Sie behaupten sich auf dem Arbeitsmarkt,

bauen soziale Netzwerke auf und werden ihrer Rolle als Familienväter bzw. -mütter gerecht.

Über die Jahre hinweg häuften sich die Beobachtungen, die nicht mit der herkömmlichen

Verliererperspektive zu vereinbaren waren. Forscher von der Universität Minnesota betreuten eine

Gruppe von Flüchtlingskindern, die nach den Schrecken des kambodschanischen Pol-Pot-Regimes in den

Jahren 1970-79 in die USA kamen.15 Sie waren unter anderem Zeugen von Folter, Misshandlungen und

Mord an Verwandten und Freunden oder entgingen nur knapp dem Hungertod in brutalen Arbeitslagern.

Noch immer haben sie Alpträume, durchleben Zeiten voller Angst und großer Verzweiflung. Dennoch

haben die inzwischen erwachsenen Kinder eine höhere Ausbildung genossen und sich ihrem neuen Leben

sehr gut angepasst.

Als der Arzt Norman Garmezy von der Universität Minnesota eine Gruppe Jugendlicher untersuchte,

die mit extrem stark depressiven Müttern aufgewachsen waren, kam er aus dem Staunen nicht mehr

heraus. Viele der emotional vernachlässigten Kinder kamen im Leben erstaunlich gut zurecht.

Unmittelbare Reaktion Garmezys: Es musste eine Fehldiagnose der Mütter vorliegen. Ähnliche Zweifel

erlebte der britische Arzt Michael Rutter, als er Kinder von Drogensüchtigen untersuchte. Ein verblüffend

hoher Anteil führte ein völlig normales Erwachsenenleben. Irgendetwas, dachte Rutter, konnte mit der

herkömmlichen Opfertheorie der Psychologen, nach der schwer traumatisierte Kinder zu einem

«verkorksten «Dasein verurteilt sind, nicht stimmen.

In der Zwischenzeit haben einige groß angelegte Untersuchungen begonnen, die

«Schutzengelfaktoren «im Leben der Unverwundbaren aufzudecken.16 Der Erlanger Psychologe Friedrich

Lösel etwa hat Jugendliche aus Heimen untersucht, die häufig in einem Multiproblem-Milieu auf

gewachsen waren: In unvollständigen Familien, in denen Alkoholmissbrauch, Gewalttätigkeit und soziale

Not vorherrschten. Eine vergleichbare amerikanische Studie nahm Menschen unter die Lupe, die vor