ihrem zweiten Geburtstag mindestens vier Risikofaktoren ausgesetzt gewesen waren, darunter Armut,
Streit und Trennung der Eltern oder psychische Krankheiten der Eltern.
Obwohl die Erwartung vorherrschte, dass eine solche Häufung von Risiken die Belastbarkeit aller
Kinder übersteigt, kam immer wieder der gleiche überraschende Trend ans Tageslicht: Etwa ein Drittel
wuchs zu lebenstüchtigen Erwachsenen heran, die gut die Herausforderungen von Liebe, Arbeit und
Freizeit meisterten. Von ihrer Persönlichkeit her waren die Widerstandsfähigen etwas flexibler und
konnten sich leichter auf veränderte Verhältnisse einstellen. Sie erwiesen sich als etwas intelligenter und
fühlten sich weniger ausgeliefert. Wenn Probleme anstanden, gingen sie aktiv an diese heran und nahmen
von sich aus den Rat anderer in Anspruch, während ihre verwundbaren Altersgenossen eher den Kopf in
den Sand steckten. Die Übernahme von Verantwortung für Geschwister wirkte sich äußerst günstig aus.
Als sie älter wurden, schienen die Unverwundbaren besonders geschickt darin zu sein, sich vorteilhafte
«Ersatzeltern «auszusuchen. Obwohl beide Gruppen unter ähnlichen Heimbedingungen lebten, hatten die
Unverwundbaren eher den Eindruck, dass in ihrem Umfeld stärker zur Selbständigkeit angeleitet wurde.
Sie gaben auch öfter an, dass das Leben im Heim eine Verbesserung gegenüber den häufig katastrophalen
Verhältnissen daheim darstellte. Heilsam war zudem der Glaube an eine höhere Macht, einen Schutzengel
oder daran, dass sich alles zum Guten wenden würde. Wer die Fähigkeit hatte, sich selbst ein Ziel für die
Zukunft zu setzen, kam ebenfalls besser mit den Widrigkeiten zurecht.
Der Verdacht, dass es sich um veritable» Wunderkinder «handelt, lässt sich aber laut Lösel nicht
rechtfertigen: Zwischen den Unverwundbaren und einer Vergleichsgruppe» normaler «Gleichaltriger gab
es weit mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Normale Kinder können also in Krisensituationen
ebenfalls Schutzfaktoren mobilisieren. Wir alle verfügen über solche Kräfte, und — wir sollten sie nutzen,
meint die Psychologin Edith Grotberg von der Universität in Alabama, USA. Für sie gehören Humor,
Unabhängigkeit, Initiative, Kreativität und Moral zu den Eigenschaften, die uns helfen können, uns
unserer wahren Stärke und Unbezwingbarkeit bewusst zu werden.
«Misshandelte Kinder misshandeln in einem Teufelskreis der Gewalt ihre Kinder selbst«
Nach einer Hypothese, die in der Bevölkerung wegen ihrer Plausibilität auf breite Anerkennung stößt,
pflanzt sich Gewalt an Kindern in einem Teufelskreis der Gewalt über die Generationen fort: Personen,
die in ihrer Kindheit rohe Misshandlungen über sich ergehen lassen mussten, treten demnach als
Erwachsene wie hypnotisiert in die Fußstapfen ihrer Peiniger und lassen die erfahrene Aggression an
ihren eigenen Kindern aus.
Der Glaube an den zyklischen Charakter der Kindesmisshandlung entstand in den siebziger Jahren,
als Psychoanalytiker den biographischen Hintergrund einzelner Täter aufrollten. Die überwältigende
Mehrheit, so schien es, hatte das Trauma in der Kindheit am eigenen Leib erlebt, und die Folge war
offensichtlich ein unbändiger» Wiederholungszwang«. Heute werden jedoch zahlreiche Schwächen an
diesem Ansatz bemängelt, betont der amerikanische Psychologe Jay Belsky.17 So waren die Stichproben
oft völlig unrepräsentativ, und auch das Vertrauen in die subjektiven Erinnerungen erscheint unzulässig.
Es gibt aber mittlerweile einige aussagekräftige» prospektive «Studien, in denen entsprechend
vorbelastete Menschen über einen genügend großen Zeitraum beobachtet wurden. Nach einer
vorsichtigen Schätzung beläuft sich die Transmissionsquote bei der Kindesmisshandlung auf rund 30
Prozent. Das bedeutet, dass sich lediglich jedes dritte Opfer an seinen eigenen Kindern» revanchiert«,
während zwei Drittel die grausame familiäre» Tradition «nicht weiterführen. Dabei ist nicht einmal die
Möglichkeit berücksichtigt, dass die tatsächlich existierende Transmissionsquote durch erbliche
Gemeinsamkeiten zwischen Eltern und Kindern verursacht wird. Gewalt gegen Kinder geht jedenfalls in
der überwältigenden Zahl der Fälle von Eltern aus, die dieses Trauma nie selbst erfahren haben.
Auch die Auffassung, dass misshandelte Kinder in der Folgezeit» automatisch «auf die schiefe Bahn
geraten und Gewalttaten begehen, bedarf einer statistischen Korrektur. Zwar zeigte sich in Amerika, dass
Vernachlässigung und Misshandlung das Risiko späterer Straffälligkeit tatsächlich nicht unerheblich
erhöhen, von etwa 17 auf 26 Prozent. Aber diese Zahlen bedeuten auch, dass die große Mehrzahl jener,
die als Kinder vernachlässigt oder misshandelt wurden, später nicht straffällig werden.»Vernachlässigung
und Misshandlung können also weder eine notwendige noch eine ausreichende Vorbedingung für spätere
Delinquenz sein«, gibt der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer zu bedenken.
Wer in der Öffentlichkeit darauf hinweist, dass Kindesmisshandlung nicht zwingend zu destruktiven
Verhaltensweisen im späteren Leben führt, setzt sich leicht der ungeheuren Unterstellung aus, Gewalt
gegen Kinder zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. Als wenn Kindesmisshandlung erst dadurch
richtig verwerflich und strafbar würde, dass sie Jahrzehnte später faule Früchte trägt. Doch muss man sich
nur vor Augen halten, dass auch Gewalt gegen den eigenen erwachsenen Lebensgefährten eine
abscheuliche Schandtat ist. Und zwar weil sie diesem in der Gegenwart Leid und Schmerz zufügt, nicht
weil er sich dadurch in der Zukunft eine verkorkste Persönlichkeit einhandelt.
Gewalt gegen Kinder ist allein wegen des kindlichen Leides im Hier und Jetzt eine Freveltat. Die
Aufklärungskampagne gegen den vermeintlichen» Zyklus der Gewalt «hatte teilweise auch die Funktion,
die Kindesmisshandlung in all ihrer Schrecklichkeit zu brandmarken. Das moralisch hoch stehende Motiv
ebnete jedoch einem nachlässigen Umgang mit den wissenschaftlichen Fakten die Bahn, der jetzt die
Glaubwürdigkeit der Urheber unterminiert.
«Frauen, die selbst eine traumatische Kindheit hatten, können keine guten Mütter sein«
Wenn man den populären Vorstellungen Glauben schenken darf, ist Mütterlichkeit eine ganz besondere
Gabe, die nur unter günstigen Voraussetzungen und mit einer gehörigen Portion angelesenem Know-how
zustande kommt. Nach der Theorie des Wiederholungszwangs müssen Frauen ihren Kindern wie unter
einem Fluch die gleiche Behandlung angedeihen lassen, die sie bei ihrer eigenen Mutter erfahren haben.
In unzähligen Broschüren, Handbüchern und Elternzeitschriften wird die Mutterschaft als eine exakte
Wissenschaft hingestellt, die etwa so brisante Anforderungen stellt wie das Management eines
Atomkraftwerks. Wer beim Kinderkriegen nicht pedantisch die Regeln von Prof. Lamazze oder Dr.
Leboyer befolgt, hat sich von Anfang an alle Chancen auf eine innige und liebevolle Beziehung
verscherzt. Und wenn es sich bei der Schwangerschaft gar um einen» Unfall «handelt, kann die
Gebärerin nur noch als böse» Rabenmutter «enden, die ihr Kind zu einem verpfuschten Leben verdammt.
Aber in Wirklichkeit beruhen alle diese Erwägungen nur auf Glaubenssätzen und Dogmen, die von