Выбрать главу

irgendwelchen Koryphäen ausgedacht und seitdem unkritisch nachgebetet wurden. Der Blick auf die

empirischen Ergebnisse der Psychologie lässt das ganze Kartenhaus in sich zusammenbrechen. Das

beweist auch die Langzeitstudie, in der Bettina Wiese vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in

Berlin werdende Mütter vom Beginn der Schwangerschaft an bis in die Zeit nach der Entbindung

beobachtete.18

Quintessenz der Untersuchung: Mütter sind keineswegs die geknechteten Sklaven ihrer Vergangenheit.

Sie wachsen im Guten wie im Schlechten über die» Prägung «im eigenen Elternhaus hinaus. Sie müssen

sich auch nicht erst mit den klugen Ratschlägen der Fachleute voll stopfen, wenn sie eine gute Beziehung

zu ihrem Nachwuchs aufbauen wollen.

Wenn die Theorie vom Wiederholungszwang zuträfe, könnten Frauen nur dann eine liebevolle

Beziehung zu ihrem Kind aufbauen, wenn sie diese» Gnade «bei ihrer eigenen Mutter erfahren hätten.

Die Frauen, die selbst kühl und abweisend behandelt oder überbehütet wurden, wären hingegen dazu

verdammt, dieses familiäre» Erbe «weiterzugeben. Doch das stimmt so nicht. Die Frauen, die angaben,

von ihrer eigenen Mutter nicht gerade verzärtelt worden zu sein, gingen ebenso liebevoll und zärtlich mit

ihren Kindern um wie ihre Geschlechtsgenossinnen mit den glücklicheren Kindheitserinnerungen. Sie

lächelten bei der Pflege des Säuglings genauso häufig wie die anderen, gaben gleich häufig Koseworte

von sich, rieben ebenso oft die Nase des Kleinen und hatten auch genauso oft zärtlichen Körperkontakt.

Der Glaube, dass Frauen in einem Teufelskreis stecken und ihre eigenen Bindungserfahrungen auf die

nächste Generation übertragen, ist damit schwer erschüttert.

Aus diesem Grund sind Mütter auch nicht gezwungen, bei ihren Kindern die Entwicklung zur

Selbständigkeit» abzuwürgen«, nur weil ihre eigene Mutter das bei ihnen versucht hat. Die Frauen, die in

ihrer Kindheit ständig überbehütet und mit extremer Besorgtheit behandelt worden waren, verhielten sich

bei der Pflege der eigenen Kinder völlig frei, locker und ungezwungen.

Nach einer anderen Klischeevorstellung kann es nur zwischen der Mutter und einem echten

Wunschkind richtig» funken«. Wenn das Kind dagegen einem» Unfall «oder gar einer ungewollten

Schwangerschaft entstammt, ist die Beziehung schon vor ihrem eigentlichen Beginn verflucht. Auch

dieser Glaube hält der Überprüfung nicht stand. Den Kindern aus unerwünschten Schwangerschaften

wurde genauso viel Liebe und Zuwendung zuteil wie den Wunschkindern.

Es ist in den letzten Jahren auch fast zur Pflicht geworden, dass eine moderne, aufgeklärte und sich

ihrer Verantwortung bewusste Mutter ihr Kind unbedingt bei vollem Bewusstsein zur Welt bringt. Eine

Vollnarkose gehört nicht zum guten Ton, weil sie angeblich einen Keil zwischen die Mutter und die

Leibesfrucht treibt. Weit gefehlt; nach Wieses Daten verlief die Urbeziehung auch dann harmonisch und

liebevoll, wenn das Kind unter Betäubung der Mutter abgenabelt worden war. Geburtsschmerzen sind

also ganz bestimmt keine Eintrittskarte in den» Klub der guten Mütter«.

Verunsicherte Frauen brauchen sich schließlich auch keine Sorgen zu machen, dass der Königsweg zur

vollendeten Mütterlichkeit obligatorisch mit Ratgeberliteratur und Volkshochschulkursen gepflastert sein

muss. Alle Befunde deuten darauf hin, dass die Mutter-Kind-Dyade viel stärker durch Gefühle und

Instinkte gesteuert wird als durch angelesenes Wissen und graue Theorie. Die Mütter, die einen besonders

guten Draht zum Baby entwickelten, nahmen schon in der Schwangerschaft spontan Kontakt mit dem

Ungeborenen auf und versuchten intuitiv, es durch Berührungen und Gespräche zu stimulieren und zum

Mitgehen zu bewegen. Diese urtümliche und animalische Form der Verständigung liegt den meisten

Müttern (und Vätern)»im Blut«; sie muss nicht durch Handbücher vermittelt werden.

Wenn eine» gute «Mutterschaft von der Kenntnis psychohygienischer und psychoanalytischer

Weisheiten abhängig wäre, müssten entsprechend beschlagene Mütter ja auch besonders kompetente

Erzieherinnen sein, folgert der amerikanische Psychiatrie-Professor E. Fuller Torrey.19 Es gibt nur eine

einzige Studie, die diese Frage systematisch in Augenschein nahm. 21 Mütter, die mehr oder weniger viel

freudianisches Basiswissen besaßen, wurden dabei im Umgang mit ihren Kindern sondiert. Peinliches

Ergebnis: Die» aufgeklärten «Frauen kamen besonders schlecht mit ihren Sprösslingen zurecht.

Außerdem folgt aus der Theorie implizit, dass Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und

ähnliche Fachleute der Seele ein besonders großes erzieherisches Geschick besitzen müssten, gibt Fuller

Torrey weiter zu bedenken.»Obwohl diese These niemals explizit getestet wurde, ruft ihre Diskussion

mit Experten der Psychiatrie und der seelischen Gesundheit nur betretenes Lächeln und Äußerungen von

der Art >Sie sind wohl verrückt< hervor.«

«Die Scheidung der Eltern traumatisiert die kindliche Psyche«

Es ist eine allgemein anerkannte Vorstellung, dass eine Scheidung für Kinder ein erhebliches Trauma

darstellt, das unweigerlich Narben in der Seele der Betroffenen zurücklässt. Selbst Experten der

Psychologie und Lebensberatung beschwören die Gefahren für die kindliche Psyche herauf. Bei genauem

Licht betrachtet besitzt dieser Zusammenhang jedoch erstaunlich wenig Wahrheitsgehalt: Wenn

überhaupt, dann rufen weniger die Scheidung selbst, sondern die Probleme, die zur Scheidung führen,

psychische Belastungen für manche Söhne und Töchter hervor.

Es gibt unter Experten eine Tendenz, das Phänomen Scheidung automatisch aus einer

«Desasterperspektive «zu betrachten und als Kontrast den Begriff» intakt «zu verwenden, um die

vermeintlich heile Familie traditioneller Prägung zu charakterisieren, stellen Norbert Hofmann-Hausner

und Reiner Bastine vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg fest.20 In der modernen

Gesellschaft sind jedoch längst diverse Alternativen zur traditionellen Familie» normal «und salonfähig

geworden. Außerdem basieren die meisten Aussagen über die schädlichen Effekte der elterlichen

Trennung auf Daten, die keine Verallgemeinerung zulassen: Auf den Beobachtungen an behandelten

Klienten, die wegen schwerwiegender Symptome eine Therapie aufsuchen mussten, und auf der

Untersuchung von Personen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit eine elterliche Scheidung

erlebt hatten.

Behandelte Klienten sind jedoch keineswegs repräsentativ, und etwaige Störungen bei

Scheidungskindern müssen nicht von der Scheidung selbst herrühren, sondern können auch durch das

zerrüttete Klima bedingt sein, das zur Trennung führte. Schließlich wird sehr oft unter den Tisch gekehrt,

dass nur ein sehr kleiner Teil der Betroffenen seelische Verletzungen davonträgt, und dass diese

Verletzungen meistens einen eher milden Charakter haben. Die methodisch anfechtbaren Untersuchungen

kommen zu dem Ergebnis, das Kinder als akute Reaktion auf eine Scheidung von Depressionen, Ängsten

und Schuldgefühlen befallen werden. Aber eine Zusammenschau von 92 Studien mit über 13.000 Kindern

erlaubt auch den Schluss, dass eine große Anzahl von Scheidungskindern unversehrt aus dem» Trauma«