würden.
Um die Wesenszüge, mit denen sich Erstgeborene angeblich von ihren Geschwistern abheben, ranken
sich viele moderne Legenden. Erstgeborene, so behauptet Frank Sulloway, Wissenschaftshistoriker am
Massachusetts Institute of Technology in einer erfolgreichen Buchpublikation, verstärken nach der
Ankunft von Geschwistern ihre Neigung, sich mit den Altvorderen zu identifizieren. In 26-jähriger
Fleißarbeit hat Sulloway die Biografien von 6566 historischen Persönlichkeiten untersucht und ein festes
Muster eruiert. Danach üben Erstgeborene, begünstigt durch ihren Altersvorsprung, im Umgang mit den
Spätergeborenen oft ein autoritäres Machtgehabe ein, das sie später nie wieder loswerden.
Dass sie, einst im Alleinbesitz der Elternliebe, nun mit den Jüngeren konkurrieren müssen, schmerzt
sie und lässt sie reizbar werden. Sie neigen zu Eifersucht, Rachegelüsten und plötzlichen
Gewaltausbrüchen — alles in allem ein wenig sympathisches Bild, das nur durch Eigenschaften wie
Disziplin und Verantwortungsbewusstsein aufgehellt wird. Daran hapert es bei den Spätergeborenen, die
zunächst auf den unteren Stufen der Familienhierarchie Platz nehmen müssen. Dort sind sie gezwungen,
nach»Überlebensnischen «Ausschau zu halten — soll heißen: Im Wettstreit um die Zuwendung der Eltern
müssen sie tunlichst Talente entfalten, mit denen die älteren Geschwister bis dahin nicht aufwarten
konnten.
Was Sulloway erst im Gespräch preisgibt, ist die Tatsache, dass von den 30 bis 50 Prozent
nichtgenetischen Einflüssen auf die Persönlichkeit bloß 2 bis 8 Prozent auf die Geburtsfolge
zurückzuführen sind.4 Außerdem sind Vergleiche zwischen Erst- und Spätergeborenen mit massiven
methodischen Fußangeln behaftet, die jede Interpretation in Frage stellen, warnt der Psychologe Jens
Asendorpf.8 Die Chance, ein mittleres oder letztes Kind zu sein, ist ja erst in größeren Familien gegeben.
Da Mittelschichtfamilien heutzutage weniger Kinder haben, sind Erstgeborene bei ihnen
überrepräsentiert, mittlere und letztgeborene Kinder aber unterrepräsentiert.»Nach Kontrolle von
Geschwisterzahl und sozialer Schicht bleiben keine bedeutenden Persönlichkeitsunterschiede zwischen
Kindern oder Erwachsenen mit unterschiedlicher Position in der Geschwisterreihe bestehen.
Persönlichkeitsunterschiede durch die Stellung in der Geschwisterreihe erklären zu wollen ist eine
Sackgasse.«
Psychologen haben in den vergangenen Jahren Berge von Daten über die Persönlichkeit von Erst- und
Spätergeborenen angehäuft, gibt Judith Rich Harris zu bedenken. Unterschiede zwischen den beiden
Gruppen tauchten, wenn überhaupt, nur in älteren, methodisch schlechteren Studien mit geringen
Probandenzahlen auf; in den neuen Untersuchungen mit anspruchsvollem Design und größeren
Stichproben waren Differenzen nicht zu verzeichnen. Zwei Schweizer Psychiater durchleuchteten vor ein
paar Jahren 7582 Personen mit den aktuellsten Psychotests. Fazit: Die Stellung in der Geschwisterreihe
hatte keinen messbaren Einfluss auf die Persönlichkeit.
«Das kindliche Gehirn benötigt besondere Anregungen für seine optimale Entwicklung«
Zeitschriftenartikel und die Ratgeberliteratur berufen sich in den letzten Jahren immer häufiger auf
«Forschungsergebnisse«, die beweisen, dass das kindliche Gehirn nur dann seine maximale
Leistungsfähigkeit entfalten kann, wenn die Eltern mit einer Vielfalt von geistigen Anregungen
«Entwicklungshilfe «leisten. Eine abwechslungsreiche Kinderstube mit vielen Spielzeugen, einem
Höchstmaß an elterlicher Ansprache und anderen Formen der Stimulation machen Babys danach schlauer.
Sie sollen ihnen sogar zu einem besonders engmaschigen Netz von Nervenkontakten (Synapsen)
verhelfen. Wenn diese aufbauenden Denkanstöße in einer kritischen Periode der frühen Entwicklung
fehlen, bleibt die Gehirnfunktion angeblich lebenslänglich hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Diese Zusammenhänge werden meist so dargestellt, als wenn es sich dabei um den letzten Schrei auf
dem Gebiet der Neurobiologie handeln würde. Hier wird offensichtlich der Nimbus einer» harten«
Naturwissenschaft ausgeschlachtet, um durch die Hintertür den Mythos von der herausragenden
Bedeutung der Kindheit wieder aufzurichten, der in der Erziehungsstilforschung und in der
Traumatheorie doch gerade erst kapitalen Schiffbruch erlitten hat.»Es wird der Eindruck erweckt, dass
man Kinder durch eine Investition in die frühen Jahre vor dem späteren schulischen Misserfolg bewahren
kann«, warnt der Neurobiologe Professor John Bruer, Leiter der James S. McDonnell Foundation in St.
Louis, Missouri.23»Aber das ist ein Missbrauch der Gehirnforschung und eine Irreführung der Eltern.«
Das Dilemma mit den angeführten» Forschungsergebnissen «ist, dass sie weder besonders neu und
originell noch überhaupt auf den Menschen bezogen sind. Das Grundprinzip entdeckten Biologen schon
in den siebziger Jahren bei Experimenten mit Ratten und Mäusen, deren Gehirne zum Abschluss in feine
Scheiben geschnitten wurden. Eine Hälfte neugeborener Nager musste ihre Kindheit in tristen
Laborkäfigen fristen, während die andere einen Überfluss an Sinneseindrücken genoss: Spielzeug,
Verstecke, Käse und Vollkornriegel.
Die Mäuse aus der anregenden Umwelt hatten hinterher tatsächlich» mehr im Kopf«. Sie fanden den
Ausweg aus einem Labyrinth fast doppelt so schnell wie die Artgenossen, die in Reizarmut aufgewachsen
waren. An manchen Stellen wies ihre Großhirnrinde 25 Prozent mehr Synapsen auf. In einer ähnlichen
Studie fanden Psychologen aus den USA, dass die stimulierten Nagetiere sich auch viel länger den
Nachstellungen einer Katze entziehen konnten.
«Aber es ist überhaupt nicht klar, ob das, was für Nagetiere gut ist, für Menschen gut sein muss«,
wendet der amerikanische Neurobiologe Jack Shonkoff ein. Der Unterschied zwischen einer tristen und
einer angereicherten Käfigumwelt sei zudem sehr viel extremer als der Unterschied zwischen der
normalen und einer angereicherten Umwelt beim Menschen.»Ob Sie Ihr Kind schon im Mutterleib mit
einem Megaphon ansprechen oder an allen Gegenständen erklärende Kärtchen anbringen — Sie werden
seinem Gehirn keine speziellen Potenziale entlocken«, pflichtet der Entwicklungspsychologe Ross
Thompson aus Nebraska bei.
Zum einen ist die Fähigkeit, neue Synapsen und Schaltkreise im Gehirn zu entwickeln, beim Menschen
überhaupt nicht an kritische Perioden geknüpft: Unser Denkapparat kann diese Leistung das ganze Leben
erbringen. Lediglich bei bestimmten Sinnesleistungen wie dem beidäugigen Sehen kennt das menschliche
Gehirn kritische Perioden, in denen eine bestimmte (optische) Stimulation unbedingt erfolgen muss. Bei
höheren Leistungen wie dem Denken und dem Wissenserwerb fehlen solche zeitlichen Fenster ganz.
Jüngste Forschungsergebnisse haben sogar gezeigt, dass unser Gehirn bis ins höhere Alter die Fähigkeit
behält, neue Nervenzellen zu bilden.
Abgesehen davon kam in den letzten Jahren immer klarer ans Tageslicht, dass unser Gehirn eine bis
dahin nie geahnte Gabe zur Kompensation erlittener Mängel besitzt. Selbst Kinder, die unter
unvorstellbar reizarmen Bedingungen in rumänischen Waisenhäusern aufgewachsen waren, holten geistig