Die Psychoanalyse ist aber auch — wie alle großen» Offenbarungen «der Menschheit — ein
Gedankengebäude, das die ultimative Erklärung für Kummer, Leid und Verzweiflung bereithält.
Menschen, die gerade Kummer und Leid empfinden, können aber schon aus dem Glauben an die
Erklärbarkeit dieses Zustandes einen gewissen Trost beziehen — erklärtes Leid ist halbes Leid. Besonders
dann, wenn die» Erklärung «die Schuld an dem Leid nach außen, auf andere Personen oder persönlich
nicht zu verantwortende Umstände abwälzt.
Aber in dem mythischen Urbild des verletzten und (von Gott?) verlassenen Kindes scheint auch ein
ergreifendes Gleichnis durch, eine nihilistische Weisheit, die die Jünger des Wiener Seelenmythologen
heute beschämt unter den Teppich kehren, weil sie dem modischen Habitus der emanzipatorischen
Freiheitsbewegung widerspricht, mit dem man sich in der Psychoszene so gerne schmückt. Wie die US-
Psychologin Phyllis Chesler unterstreicht, gibt es eben auch eine versteckte und vergessene Botschaft
Freuds, und die lautet,»dass das Leben tragisch ist, dass es reale Schranken gibt, dass alles seinen Preis
hat, dass niemand etwas umsonst bekommt, dass wir hier nicht lebend herauskommen… «.[7]
Mit tragischen Lebensweisheiten kann man jedoch in modernen Wohlfahrtsstaaten keinen
anspruchsberechtigten Leistungsempfänger mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Alle
psychotherapeutischen Schulen — auch die von der akademischen Psychologie protegierten — leisten
daher, oft wider besseres Wissen, der Illusion Vorschub, dass es in der modernen» Vollkaskogesellschaft«
für jede definierte seelische Notlage eine exakt geeichte, fachmännische» Heilmethode «gibt. Dies ist
wahrscheinlich der größte Psycho-Irrtum, dessen Anspruch im ersten Kapitel dieses Buches mit den
Daten und Zahlen der Forschung entkräftet wird. Quintessenz: Keine einzige psychotherapeutische
Schule kann Heilwirkungen vorweisen, die größer sind als der Effekt einer wirkstofflosen Zuckerpille
(Placebo-Effekt).
Psycho-Irrtümer sind deshalb so gefährlich, weil sie mit der Zeit unmerklich zum integralen
Bestandteil unserer Selbstwahrnehmung gerinnen. Der» Blick nach innen «liefert ebenso» optische
Täuschungen«, Irrtümer und Illusionen, wie uns der (naive) Blick nach außen Trugbilder wie die
Scheibenförmigkeit unseres Planeten oder die Umdrehung der Sonne um die Erde vorgaukelt.
Amerikanische Sozialpsychologen haben schon vor Jahrzehnten in sorgfältigen Experimenten Beweise
dafür gesammelt, dass Menschen gar nicht wirklich in sich selbst» hineinschauen«, wenn sie nach den
Gründen ihres Handelns suchen. De facto betrachten sie sich selbst von außen wie einen Fremden und
zimmern sich eine notdürftige und plausible Theorie über die unbekannte Person zusammen. Auch wenn
wir glauben, uns selbst zu verstehen, umgarnen wir uns selbst doch nur mit theoretischen Lehrgebäuden,
die auf kulturell verankerten Mythen und Dogmen, flüchtig gehörten Klischees oder durch die Medien
verbreiteten Scheinerklärungen beruhen. Wer gerade eine» orale Fixierung «oder einen» freudschen
Versprecher «bei sich selber» erkennt«, merkt gar nicht mehr, dass er sich in Wirklichkeit nur antiquierte
Metaphern des frühen Maschinenzeitalters überstülpt. In diesem Sinne hat Sigmund Freud gewiss einen
größeren und bleibenderen Schaden angerichtet als Karl Marx.
Aus diesen Gründen sollen im vorliegenden Buch vornehmlich solche psychologischen Irrtümer
gebrandmarkt werden, die sich besonders heimtückisch in der modernen Selbstwahrnehmung eingenistet
haben.»Der Mensch ist ein Produkt der Erziehung«, das ist ein solcher Denkfehler, der in fast allen
Köpfen sein Unwesen treibt. Man glaubt förmlich, den Niederschlag seiner frühen Prägung bei sich selbst
zu sehen. Auch der Glaube an die Omnipotenz der Massenmedien ist ein Mythos, der den Blick auf das
werte Selbst und die anderen verzerrt. Der Irrglaube, dass die eine oder andere Krankheit
«psychosomatische «Ursachen habe, ist besonders hinterhältig: Er verstellt nicht nur den Blick auf die
wahren Ursachen des Leidens, er schiebt dem Patienten auch» hintenherum «die Verantwortung für
seinen Zustand zu. Um den Nutzen des» Selbstwertgefühls «ist ein regelrechter Psychokult entstanden.
Es stimmt jedoch keineswegs, dass ein möglichst hohes Selbstwertgefühl nur positive Folgen hat.
Manche modernen Psycho-Irrtümer sind auch auf dem» Mist «der Gehirnforschung gewachsen. So etwa
die Zweiteilung des Gehirns in den logischen Analytiker (linke Hälfte) und den holistischen
Gefühlsmenschen (rechte Hälfte) etwa, die sich bei näherer Betrachtung als hirnrissig erweist.
Einige psychologische Irrtümer bleiben in dieser Streitschrift unerwähnt. Der Glaube an die Macht der
Sterne (Astrologie) oder das Vertrauen in die Bedeutsamkeit der Handschrift (Graphologie) haben zwar
immer noch ihre Anhänger, aber ihnen fehlt längst jene intellektuelle Ausstrahlungskraft, die notwendig
ist, um die zeitgenössische Selbstwahrnehmung zu deformieren. Der Glaube an die Gültigkeit ihres
Horoskops etwa» sitzt «bei den meisten Menschen nicht viel tiefer als der Glaube an den Nikolaus.
Der Versuch, gegen die fundamentalen Psycho-Irrtümer anzurennen, hat offensichtlich viel mit einem
Kampf gegen Windmühlen gemein. Mythen sind weitgehend gegen die Pfeile der Vernunft gefeit. Zudem
kann man sich an ihnen leicht die Finger verbrennen, weil es einen gewaltigen Tross von einflussreichen
Mythenschützern gibt, deren Selbstachtung und materieller Lebensstandard an der Unversehrtheit der
Mythen hängt. Doch es bleibt die Hoffnung, dass ein wenig Sticheln hier und da den mentalen
Schutzschild durchdringt. Schließlich haben sich auch die Wissenschaftler, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten um die Widerlegung der Psycho-Irrtümer verdient gemacht haben, irgendwo die Saat des
Zweifels geholt. Es wäre schön, zu wissen, dass die klügsten Köpfe der Gesellschaft um die Lösung der
Rätsel und nicht für den Erhalt verstaubter Dogmen kämpfen. Aber es wäre auch schön, Tom Cruise zu
sein.
1 Nuland, Sherwin: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? Droemer Knaur Verlag, München 1994.
2 Horgan, John: Der menschliche Geist. Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen. Luchterhand Verlag, München 2000.
3 Abele-Brehm, Andrea: Psychologie in den Medien. In: Psychologische Rundschau, Bd. 41 (1990), S. 37–45.
4 Grawe, Klaus et al.: Psychotherapie im Wandel. Hogrefe Verlag, Göttingen et al. 1994.
5 Hillman, James/Ventura, Michaeclass="underline" We've had a hundred years of psychotherapy and the world's getting worse. Verlag Harper, San Francisco
1993.
6 «Kathedrale auf Treibsand«. In: Der Spiegel, 25/1998.
7 Corner, Ronald J.: Klinische Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg et al. 1995.
MYTHEN DER BEEINFLUSSUNG
Pfusch an der Couch
«Psychotherapie hat die Macht, Menschen von seelischen
Störungen und Neurosen zu heilen«
Immer mehr Menschen, die auf den verschlungenen Pfaden des Lebens die Orientierung verloren
7
Corner, Ronald J.: Klinische Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg et al. 1995.